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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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Sprache. Das Gefühl überwältigt: das Gesicht
ist zu kalt und gleichgültig: jenes dringt zu tief
in uns, als daß es Sprache werden könnte; dies
bleibt zu ruhig vor uns. Der Ton des Gehörs
dringt so innig in unsre Seele, daß er Merkmal
werden muß; aber noch nicht so übertäubend, daß
er nicht klares Merkmal werden könnte -- Das ist
Sinn der Sprache.

Wie kurz, ermüdend und unausstehlich wäre
die Sprache jedes gröbern Sinnes für uns? Wie
verwirrend und kopfleerend für uns die Sprache
des zu feinen Gesichts? Wer kann immer schme-
cken, fühlen und riechen, ohne nicht bald, wie
Pope sagt, einen aromatischen Tod zu sterben?
Und wer immer mit Aufmerksamkeit ein Farben-
clavier begaffen, ohne nicht bald zu erblinden?
Aber hören, gleichsam hörend Worte denken, kön-
nen wir länger und fast immer -- das Gehör ist
für die Seele, was die Grüne, die Mittelfarbe,
fürs Gesicht ist. Der Mensch ist zum Sprachge-
schöpfe gebildet.

4) Das Gehör ist der mittlere Sinn in be-
tracht der Zeit in der es würkt,
und also Sinn

der
G 4

Sprache. Das Gefuͤhl uͤberwaͤltigt: das Geſicht
iſt zu kalt und gleichguͤltig: jenes dringt zu tief
in uns, als daß es Sprache werden koͤnnte; dies
bleibt zu ruhig vor uns. Der Ton des Gehoͤrs
dringt ſo innig in unſre Seele, daß er Merkmal
werden muß; aber noch nicht ſo uͤbertaͤubend, daß
er nicht klares Merkmal werden koͤnnte — Das iſt
Sinn der Sprache.

Wie kurz, ermuͤdend und unausſtehlich waͤre
die Sprache jedes groͤbern Sinnes fuͤr uns? Wie
verwirrend und kopfleerend fuͤr uns die Sprache
des zu feinen Geſichts? Wer kann immer ſchme-
cken, fuͤhlen und riechen, ohne nicht bald, wie
Pope ſagt, einen aromatiſchen Tod zu ſterben?
Und wer immer mit Aufmerkſamkeit ein Farben-
clavier begaffen, ohne nicht bald zu erblinden?
Aber hoͤren, gleichſam hoͤrend Worte denken, koͤn-
nen wir laͤnger und faſt immer — das Gehoͤr iſt
fuͤr die Seele, was die Gruͤne, die Mittelfarbe,
fuͤrs Geſicht iſt. Der Menſch iſt zum Sprachge-
ſchoͤpfe gebildet.

4) Das Gehoͤr iſt der mittlere Sinn in be-
tracht der Zeit in der es wuͤrkt,
und alſo Sinn

der
G 4
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[103/0109] Sprache. Das Gefuͤhl uͤberwaͤltigt: das Geſicht iſt zu kalt und gleichguͤltig: jenes dringt zu tief in uns, als daß es Sprache werden koͤnnte; dies bleibt zu ruhig vor uns. Der Ton des Gehoͤrs dringt ſo innig in unſre Seele, daß er Merkmal werden muß; aber noch nicht ſo uͤbertaͤubend, daß er nicht klares Merkmal werden koͤnnte — Das iſt Sinn der Sprache. Wie kurz, ermuͤdend und unausſtehlich waͤre die Sprache jedes groͤbern Sinnes fuͤr uns? Wie verwirrend und kopfleerend fuͤr uns die Sprache des zu feinen Geſichts? Wer kann immer ſchme- cken, fuͤhlen und riechen, ohne nicht bald, wie Pope ſagt, einen aromatiſchen Tod zu ſterben? Und wer immer mit Aufmerkſamkeit ein Farben- clavier begaffen, ohne nicht bald zu erblinden? Aber hoͤren, gleichſam hoͤrend Worte denken, koͤn- nen wir laͤnger und faſt immer — das Gehoͤr iſt fuͤr die Seele, was die Gruͤne, die Mittelfarbe, fuͤrs Geſicht iſt. Der Menſch iſt zum Sprachge- ſchoͤpfe gebildet. 4) Das Gehoͤr iſt der mittlere Sinn in be- tracht der Zeit in der es wuͤrkt, und alſo Sinn der G 4

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/109>, abgerufen am 29.11.2024.