Begierden verkannt. Man meint, das Begehrte müsse
noth- wendig als ein Gut vorgestellt werden. Dies ist entweder eine
Tautologie, -- nämlich wenn Gut soviel heißen soll als Begehrtes, -- oder es ist ein Jrrthum, der in empirischer Hinsicht zu den unzählbaren Erschleichungen der Psychologen gehört.-- Jn Alexander Baumgartens Metaphysik steht §. 665 der Satz:
Quae placentia praevidens exstitura nisu meo prasesagio, nitor producere. Quae
displicentia praevidens impendienda nisu meo praesagio, eorum op- posita
appeto. Dies wird für die lex facultatis appeti- tivae ausgegeben. Aber als
allgemeines. Gesetz betrachtet, ist diese Lehre des sonst schätzbaren Werks in
jedem Punkte fehlerhaft. Das placere, so fern es ein Vorgefühl vom An- genehmen oder Schönen bezeichnen soll, ist nicht nöthig. Das praevidere ist
ebenfalls erschlichen. Zwar wer sich ein Begehren vorstellt, der entwickelt sich diese seine Vor- stellung auf zeitliche Weise. Aber auch die untersten
Thiere begehren, und gleichwohl kann man nicht annehmen, daß sie sich
Gegenwart und Zukunft auseinandersetzen. Das: exsti- tura
nisu meo setzt eine Vorstellung vom Jch, oder wenigstens ein Selbstgefühl
voraus, das viel späteren Ursprungs ist, als die einfachen Begierden der Thiere
und der neugebornen Kinder.
109. Die wichtigste Scheidung jedoch ist die zwischen dem untern und obern
Begehrungsvermögen. Denn beyde entzweyen sich bis zum Widerstreite; während
Gefühle ne- ben einander bestehen, oder sich mischen; und in Hinsicht der
Vorstellungen die Allermeisten, selbst der Gebildeten und Gelehrten, auf dem
sinnlichen Standpunkte bleiben, ohne sich um den metaphysischen Streit wider die
Sinne ernstlich zu kümmern.
A. Vom untern Begehrungsvermögen.
110. Hier kommen uns zuerst die Triebe und Jnstincte ent-
Begierden verkannt. Man meint, das Begehrte müsse
noth- wendig als ein Gut vorgestellt werden. Dies ist entweder eine
Tautologie, — nämlich wenn Gut soviel heißen soll als Begehrtes, — oder es ist ein Jrrthum, der in empirischer Hinsicht zu den unzählbaren Erschleichungen der Psychologen gehört.— Jn Alexander Baumgartens Metaphysik steht §. 665 der Satz:
Quae placentia praevidens exstitura nisu meo prasesagio, nitor producere. Quae
displicentia praevidens impendienda nisu meo praesagio, eorum op- posita
appeto. Dies wird für die lex facultatis appeti- tivae ausgegeben. Aber als
allgemeines. Gesetz betrachtet, ist diese Lehre des sonst schätzbaren Werks in
jedem Punkte fehlerhaft. Das placere, so fern es ein Vorgefühl vom An- genehmen oder Schönen bezeichnen soll, ist nicht nöthig. Das praevidere ist
ebenfalls erschlichen. Zwar wer sich ein Begehren vorstellt, der entwickelt sich diese seine Vor- stellung auf zeitliche Weise. Aber auch die untersten
Thiere begehren, und gleichwohl kann man nicht annehmen, daß sie sich
Gegenwart und Zukunft auseinandersetzen. Das: exsti- tura
nisu meo setzt eine Vorstellung vom Jch, oder wenigstens ein Selbstgefühl
voraus, das viel späteren Ursprungs ist, als die einfachen Begierden der Thiere
und der neugebornen Kinder.
109. Die wichtigste Scheidung jedoch ist die zwischen dem untern und obern
Begehrungsvermögen. Denn beyde entzweyen sich bis zum Widerstreite; während
Gefühle ne- ben einander bestehen, oder sich mischen; und in Hinsicht der
Vorstellungen die Allermeisten, selbst der Gebildeten und Gelehrten, auf dem
sinnlichen Standpunkte bleiben, ohne sich um den metaphysischen Streit wider die
Sinne ernstlich zu kümmern.
A. Vom untern Begehrungsvermögen.
110. Hier kommen uns zuerst die Triebe und Jnstincte ent-
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Begierden verkannt. Man meint, das Begehrte müsse noth-
wendig als ein Gut vorgestellt werden. Dies ist entweder
eine Tautologie, — nämlich wenn Gut soviel heißen soll als
Begehrtes, — oder es ist ein Jrrthum, der in empirischer
Hinsicht zu den unzählbaren Erschleichungen der Psychologen
gehört.— Jn Alexander Baumgartens Metaphysik steht
§. 665 der Satz: Quae placentia praevidens exstitura
nisu meo prasesagio, nitor producere. Quae displicentia
praevidens impendienda nisu meo praesagio, eorum op-
posita appeto. Dies wird für die lex facultatis appeti-
tivae ausgegeben. Aber als allgemeines. Gesetz betrachtet,
ist diese Lehre des sonst schätzbaren Werks in jedem Punkte
fehlerhaft. Das placere, so fern es ein Vorgefühl vom An-
genehmen oder Schönen bezeichnen soll, ist nicht nöthig.
Das praevidere ist ebenfalls erschlichen. Zwar wer sich ein
Begehren vorstellt, der entwickelt sich diese seine Vor-
stellung auf zeitliche Weise. Aber auch die untersten Thiere
begehren, und gleichwohl kann man nicht annehmen, daß sie
sich Gegenwart und Zukunft auseinandersetzen. Das: exsti-
tura nisu meo setzt eine Vorstellung vom Jch, oder wenigstens
ein Selbstgefühl voraus, das viel späteren Ursprungs ist, als
die einfachen Begierden der Thiere und der neugebornen Kinder.
109. Die wichtigste Scheidung jedoch ist die zwischen
dem untern und obern Begehrungsvermögen. Denn beyde
entzweyen sich bis zum Widerstreite; während Gefühle ne-
ben einander bestehen, oder sich mischen; und in Hinsicht
der Vorstellungen die Allermeisten, selbst der Gebildeten und
Gelehrten, auf dem sinnlichen Standpunkte bleiben, ohne
sich um den metaphysischen Streit wider die Sinne ernstlich
zu kümmern.
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Hannah Sophia Glaum: Umwandlung in DTABf-konformes Markup.
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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/94>, abgerufen am 16.02.2025.
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