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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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Piquante erreichen, aber nicht das Schöne. Große Muster
mögen oft genug misverstanden werden. Shakespeare mischt
Komisches in die Tragödie, aber wenn er hiedurch eine
Spannung augenblicklich mildert, um sie desto sicherer wie-
derum zu steigern, so hütet er sich, seinen Hauptpersonen
das Lächerliche ankleben zu lassen. Schon Homer ist roman-
tisch in der Reise-Erzählung des Odysseus; aber das ist
Erzählung überstandener Leiden, und charakterisirt den Odys-
seus, von dem Niemand einen rein ernsten und treuen
Bericht erwarten soll.

D. Von den Affecten.

104. Nachdem man die Affecten (vorübergehende Ab-
weichungen von dem Zustande des Gleichmuths) von den
Leidenschaften (eingewurzelten Begierden) geschieden hat, ist
die Meinung herrschend geworden, Affecten seyen stärkere
Gefühle. Aber es giebt sehr starke, dauernde Gefühle, wel-
che aufs tiefste in die Grundlage eines menschlichen Charak-
ters hiningewachsen sind (z. B. Anhänglichkeit an die Sei-
nigen und an das Vaterland), mit denen der vollkommenste
Gleichmuth so lange besteht, als nichts Widriges hinzutritt,
das eine Reizung mit sich führt. Der Augenblick der Ge-
fahr für die Unsern und für das Vaterland kann.uns in
Affect setzen, aber dieser Affect ist von dem Gefühle selbst
weit verschieden. Eben so kann der Mensch ein starkes und
dauerndes Ehrgefühl besitzen, ohne darum beständig im Zu-
stande des Affects zu seyn. Weit entfernt, daß Affecten
selbst Gefühle wären, machen sie vielmehr das Gefühl
platt. Der Sittenlehrer und der Künstler haben gar sehr
Ursache, sich vor der Plattheit zu hüten, welche entsteht,
wenn der Mensch vor lauter Affect am Ende nicht mehr
weiß, worüber er eigentlich weint oder lacht.

105. Kants Eintheilung der Affecten in schmerzende
und rüstige verbreitet Licht über den Gegenstand. Die

Piquante erreichen, aber nicht das Schöne. Große Muster
mögen oft genug misverstanden werden. Shakespeare mischt
Komisches in die Tragödie, aber wenn er hiedurch eine
Spannung augenblicklich mildert, um sie desto sicherer wie-
derum zu steigern, so hütet er sich, seinen Hauptpersonen
das Lächerliche ankleben zu lassen. Schon Homer ist roman-
tisch in der Reise-Erzählung des Odysseus; aber das ist
Erzählung überstandener Leiden, und charakterisirt den Odys-
seus, von dem Niemand einen rein ernsten und treuen
Bericht erwarten soll.

D. Von den Affecten.

104. Nachdem man die Affecten (vorübergehende Ab-
weichungen von dem Zustande des Gleichmuths) von den
Leidenschaften (eingewurzelten Begierden) geschieden hat, ist
die Meinung herrschend geworden, Affecten seyen stärkere
Gefühle. Aber es giebt sehr starke, dauernde Gefühle, wel-
che aufs tiefste in die Grundlage eines menschlichen Charak-
ters hiningewachsen sind (z. B. Anhänglichkeit an die Sei-
nigen und an das Vaterland), mit denen der vollkommenste
Gleichmuth so lange besteht, als nichts Widriges hinzutritt,
das eine Reizung mit sich führt. Der Augenblick der Ge-
fahr für die Unsern und für das Vaterland kann.uns in
Affect setzen, aber dieser Affect ist von dem Gefühle selbst
weit verschieden. Eben so kann der Mensch ein starkes und
dauerndes Ehrgefühl besitzen, ohne darum beständig im Zu-
stande des Affects zu seyn. Weit entfernt, daß Affecten
selbst Gefühle wären, machen sie vielmehr das Gefühl
platt. Der Sittenlehrer und der Künstler haben gar sehr
Ursache, sich vor der Plattheit zu hüten, welche entsteht,
wenn der Mensch vor lauter Affect am Ende nicht mehr
weiß, worüber er eigentlich weint oder lacht.

105. Kants Eintheilung der Affecten in schmerzende
und rüstige verbreitet Licht über den Gegenstand. Die

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[82/0090] Piquante erreichen, aber nicht das Schöne. Große Muster mögen oft genug misverstanden werden. Shakespeare mischt Komisches in die Tragödie, aber wenn er hiedurch eine Spannung augenblicklich mildert, um sie desto sicherer wie- derum zu steigern, so hütet er sich, seinen Hauptpersonen das Lächerliche ankleben zu lassen. Schon Homer ist roman- tisch in der Reise-Erzählung des Odysseus; aber das ist Erzählung überstandener Leiden, und charakterisirt den Odys- seus, von dem Niemand einen rein ernsten und treuen Bericht erwarten soll. D. Von den Affecten. 104. Nachdem man die Affecten (vorübergehende Ab- weichungen von dem Zustande des Gleichmuths) von den Leidenschaften (eingewurzelten Begierden) geschieden hat, ist die Meinung herrschend geworden, Affecten seyen stärkere Gefühle. Aber es giebt sehr starke, dauernde Gefühle, wel- che aufs tiefste in die Grundlage eines menschlichen Charak- ters hiningewachsen sind (z. B. Anhänglichkeit an die Sei- nigen und an das Vaterland), mit denen der vollkommenste Gleichmuth so lange besteht, als nichts Widriges hinzutritt, das eine Reizung mit sich führt. Der Augenblick der Ge- fahr für die Unsern und für das Vaterland kann.uns in Affect setzen, aber dieser Affect ist von dem Gefühle selbst weit verschieden. Eben so kann der Mensch ein starkes und dauerndes Ehrgefühl besitzen, ohne darum beständig im Zu- stande des Affects zu seyn. Weit entfernt, daß Affecten selbst Gefühle wären, machen sie vielmehr das Gefühl platt. Der Sittenlehrer und der Künstler haben gar sehr Ursache, sich vor der Plattheit zu hüten, welche entsteht, wenn der Mensch vor lauter Affect am Ende nicht mehr weiß, worüber er eigentlich weint oder lacht. 105. Kants Eintheilung der Affecten in schmerzende und rüstige verbreitet Licht über den Gegenstand. Die

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/90>, abgerufen am 27.11.2024.