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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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wann er die Rücksicht auf Vortheile ober Nachtheile, wie
sie uns in der Erfahrung vor Augen liegen, verschmäht;
wann der Geist sich über die sinnlichen Gefühle erhebt, und
ihnen gerade zuwider sich bestimmt. Wodurch wird diese
Erhebung möglich? Die Antwort: durch den freyen
Willen
, ist der, in solchen Fällen Statt findenden; innern
Wahrnehmung ganz angemessen; daher wird eine, von allem
Causal-Verhältnisse unabhängige, sogenannte transscen-
dentale Freyheit
angenommen, ein Seitenstück zu der
reinen Apperception. -- Legt man nun beydes der Vernunft
bey, als demjenigen, was im Menschen von der Sinnlich-
keit am weitesten entfernt steht, so ist die Vernunft in die-
ser Bedeutung nicht sowohl ein Höheres, sondern vielmehr
ein ganz Anderes als die Sinnlichkeit; und diese letztere
kann nun nicht länger als Grund, nicht einmal als Bedin-
gung von allem Übrigen angesehen werden.

Unter dieser Voraussetzung sollte also die Psychologie
in der Anordnung ihrer Lehren nicht einen Fortschritt von
der Sinnlichkeit zur Vernunft, sondern zwey, bey ihrem
Ursprunge parallele, Reihen von Betrachtungen darstellen,
wovon Vernunft und Sinnlichkeit die Anfangspunkte aus-
machten, das Zusammentreffen beyder aber, in seinen man-
nigfaltigen Modificationen, die oberste Gegend und gleich-
sam das Ziel seyn würde. Die empirische Psychologie kann
dieser Forderung nichts entgegensetzen. Jn der Einleitung
in die Philosophie ist aber schon gezeigt (daselbst §. 103
und 107), daß die Begriffe des Jch und der transscenden-
talen Freiheit widersprechend sind. Daher ist auch der eben
aufgestellte Begriff der Vernunft, der Wahrheit nicht gemäß.
Um nichts besser aber ist der gewöhnliche Begriff von der
Sinnlichkeit, besonders wenn sie für die Quelle des Bösen
gehalten wird. Das Böseste ist eben so wenig sinnlich, als
die Sinnlichkeit durchgehends böse.

wann er die Rücksicht auf Vortheile ober Nachtheile, wie
sie uns in der Erfahrung vor Augen liegen, verschmäht;
wann der Geist sich über die sinnlichen Gefühle erhebt, und
ihnen gerade zuwider sich bestimmt. Wodurch wird diese
Erhebung möglich? Die Antwort: durch den freyen
Willen
, ist der, in solchen Fällen Statt findenden; innern
Wahrnehmung ganz angemessen; daher wird eine, von allem
Causal-Verhältnisse unabhängige, sogenannte transscen-
dentale Freyheit
angenommen, ein Seitenstück zu der
reinen Apperception. — Legt man nun beydes der Vernunft
bey, als demjenigen, was im Menschen von der Sinnlich-
keit am weitesten entfernt steht, so ist die Vernunft in die-
ser Bedeutung nicht sowohl ein Höheres, sondern vielmehr
ein ganz Anderes als die Sinnlichkeit; und diese letztere
kann nun nicht länger als Grund, nicht einmal als Bedin-
gung von allem Übrigen angesehen werden.

Unter dieser Voraussetzung sollte also die Psychologie
in der Anordnung ihrer Lehren nicht einen Fortschritt von
der Sinnlichkeit zur Vernunft, sondern zwey, bey ihrem
Ursprunge parallele, Reihen von Betrachtungen darstellen,
wovon Vernunft und Sinnlichkeit die Anfangspunkte aus-
machten, das Zusammentreffen beyder aber, in seinen man-
nigfaltigen Modificationen, die oberste Gegend und gleich-
sam das Ziel seyn würde. Die empirische Psychologie kann
dieser Forderung nichts entgegensetzen. Jn der Einleitung
in die Philosophie ist aber schon gezeigt (daselbst §. 103
und 107), daß die Begriffe des Jch und der transscenden-
talen Freiheit widersprechend sind. Daher ist auch der eben
aufgestellte Begriff der Vernunft, der Wahrheit nicht gemäß.
Um nichts besser aber ist der gewöhnliche Begriff von der
Sinnlichkeit, besonders wenn sie für die Quelle des Bösen
gehalten wird. Das Böseste ist eben so wenig sinnlich, als
die Sinnlichkeit durchgehends böse.

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[44/0052] wann er die Rücksicht auf Vortheile ober Nachtheile, wie sie uns in der Erfahrung vor Augen liegen, verschmäht; wann der Geist sich über die sinnlichen Gefühle erhebt, und ihnen gerade zuwider sich bestimmt. Wodurch wird diese Erhebung möglich? Die Antwort: durch den freyen Willen, ist der, in solchen Fällen Statt findenden; innern Wahrnehmung ganz angemessen; daher wird eine, von allem Causal-Verhältnisse unabhängige, sogenannte transscen- dentale Freyheit angenommen, ein Seitenstück zu der reinen Apperception. — Legt man nun beydes der Vernunft bey, als demjenigen, was im Menschen von der Sinnlich- keit am weitesten entfernt steht, so ist die Vernunft in die- ser Bedeutung nicht sowohl ein Höheres, sondern vielmehr ein ganz Anderes als die Sinnlichkeit; und diese letztere kann nun nicht länger als Grund, nicht einmal als Bedin- gung von allem Übrigen angesehen werden. Unter dieser Voraussetzung sollte also die Psychologie in der Anordnung ihrer Lehren nicht einen Fortschritt von der Sinnlichkeit zur Vernunft, sondern zwey, bey ihrem Ursprunge parallele, Reihen von Betrachtungen darstellen, wovon Vernunft und Sinnlichkeit die Anfangspunkte aus- machten, das Zusammentreffen beyder aber, in seinen man- nigfaltigen Modificationen, die oberste Gegend und gleich- sam das Ziel seyn würde. Die empirische Psychologie kann dieser Forderung nichts entgegensetzen. Jn der Einleitung in die Philosophie ist aber schon gezeigt (daselbst §. 103 und 107), daß die Begriffe des Jch und der transscenden- talen Freiheit widersprechend sind. Daher ist auch der eben aufgestellte Begriff der Vernunft, der Wahrheit nicht gemäß. Um nichts besser aber ist der gewöhnliche Begriff von der Sinnlichkeit, besonders wenn sie für die Quelle des Bösen gehalten wird. Das Böseste ist eben so wenig sinnlich, als die Sinnlichkeit durchgehends böse.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/52>, abgerufen am 24.11.2024.