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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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Dies alles ist sehr leicht in der Erfahrung wieder zu
erkennen. Eine uns geläufige Handlung des gemeinen Le-
bens, z. B. die Eröffnung einer Thüre, geschieht, wenn
kein besonderes Hinderniß sich einmischt, fast unbemerkt und
ohne unsern Gedankenlauf zu stören. Widersetzt sich aber
irgend eine Reibung, so strengen wir allmählig mehr Kraft
an, wir begehren immer stärker, daß die Thür sich öffne,
bis dies wirklich geschieht; ist aber die Bemühung vergeb-
lich, so läßt die Begierde einem Unbehagen Raum, das we-
nigstens so lange dauert, bis eine neue Gedankenreihe dazu
kommt, die außer dem Kreise dieser Untersuchung liegt.

220. Die Stelle eines Hindernisses vertritt oftmals
ein bloßer Mangel in einer gewohnten Umgebung. Einer
Reihe von Vorstellungen a, b, c, d, e, entspreche die
Reihe der Anschauungen a, b, c, e, worin d fehlt, so
wird dasselbe vermißt, weil die übrigen Vorstellungen
nicht damit zu Stande kommen können, den Grad von un-
gehemmter Klarheit, in welchem d mit ihnen verschmolzen
war, wieder herzustellen; wozu gehören würde, daß sie nicht
bloß in der Seele, sondern auch im Sinnesorgan die zu-
sammengehörigen Zustande, des wirklichen Anschauens her-
vorbrächten. Das Vermissen wird zum Sehnen, wenn
die Reihe a, b, c... stark genug und der Geist in sie ver-
tieft ist.

221. Man setze hier an die Stelle einer Reihe nun
ein Gewebe vieler Reihen, die. sich sogar durch den ganzen
Gedankenkreis des Menschen erstrecken können, so wird eine
allgemein durchdringende Sehnsucht nach dem vermißten
Gegenstande das ganze Gemüth erfüllen. Dies ist der
Grundzug der Liebe, der ihr Gegenstand unentbehrlich ist,
und die jede mögliche Ahndung von räumlich oder geisti-
ger Trennung verabscheut. Es ist bekannt daß sie durch
ihre mancherley Veranlassungen näher bestimmt wird, auch

Dies alles ist sehr leicht in der Erfahrung wieder zu
erkennen. Eine uns geläufige Handlung des gemeinen Le-
bens, z. B. die Eröffnung einer Thüre, geschieht, wenn
kein besonderes Hinderniß sich einmischt, fast unbemerkt und
ohne unsern Gedankenlauf zu stören. Widersetzt sich aber
irgend eine Reibung, so strengen wir allmählig mehr Kraft
an, wir begehren immer stärker, daß die Thür sich öffne,
bis dies wirklich geschieht; ist aber die Bemühung vergeb-
lich, so läßt die Begierde einem Unbehagen Raum, das we-
nigstens so lange dauert, bis eine neue Gedankenreihe dazu
kommt, die außer dem Kreise dieser Untersuchung liegt.

220. Die Stelle eines Hindernisses vertritt oftmals
ein bloßer Mangel in einer gewohnten Umgebung. Einer
Reihe von Vorstellungen a, b, c, d, e, entspreche die
Reihe der Anschauungen a, b, c, e, worin d fehlt, so
wird dasselbe vermißt, weil die übrigen Vorstellungen
nicht damit zu Stande kommen können, den Grad von un-
gehemmter Klarheit, in welchem d mit ihnen verschmolzen
war, wieder herzustellen; wozu gehören würde, daß sie nicht
bloß in der Seele, sondern auch im Sinnesorgan die zu-
sammengehörigen Zustande, des wirklichen Anschauens her-
vorbrächten. Das Vermissen wird zum Sehnen, wenn
die Reihe a, b, c… stark genug und der Geist in sie ver-
tieft ist.

221. Man setze hier an die Stelle einer Reihe nun
ein Gewebe vieler Reihen, die. sich sogar durch den ganzen
Gedankenkreis des Menschen erstrecken können, so wird eine
allgemein durchdringende Sehnsucht nach dem vermißten
Gegenstande das ganze Gemüth erfüllen. Dies ist der
Grundzug der Liebe, der ihr Gegenstand unentbehrlich ist,
und die jede mögliche Ahndung von räumlich oder geisti-
ger Trennung verabscheut. Es ist bekannt daß sie durch
ihre mancherley Veranlassungen näher bestimmt wird, auch

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[177/0185] Dies alles ist sehr leicht in der Erfahrung wieder zu erkennen. Eine uns geläufige Handlung des gemeinen Le- bens, z. B. die Eröffnung einer Thüre, geschieht, wenn kein besonderes Hinderniß sich einmischt, fast unbemerkt und ohne unsern Gedankenlauf zu stören. Widersetzt sich aber irgend eine Reibung, so strengen wir allmählig mehr Kraft an, wir begehren immer stärker, daß die Thür sich öffne, bis dies wirklich geschieht; ist aber die Bemühung vergeb- lich, so läßt die Begierde einem Unbehagen Raum, das we- nigstens so lange dauert, bis eine neue Gedankenreihe dazu kommt, die außer dem Kreise dieser Untersuchung liegt. 220. Die Stelle eines Hindernisses vertritt oftmals ein bloßer Mangel in einer gewohnten Umgebung. Einer Reihe von Vorstellungen a, b, c, d, e, entspreche die Reihe der Anschauungen a, b, c, e, worin d fehlt, so wird dasselbe vermißt, weil die übrigen Vorstellungen nicht damit zu Stande kommen können, den Grad von un- gehemmter Klarheit, in welchem d mit ihnen verschmolzen war, wieder herzustellen; wozu gehören würde, daß sie nicht bloß in der Seele, sondern auch im Sinnesorgan die zu- sammengehörigen Zustande, des wirklichen Anschauens her- vorbrächten. Das Vermissen wird zum Sehnen, wenn die Reihe a, b, c… stark genug und der Geist in sie ver- tieft ist. 221. Man setze hier an die Stelle einer Reihe nun ein Gewebe vieler Reihen, die. sich sogar durch den ganzen Gedankenkreis des Menschen erstrecken können, so wird eine allgemein durchdringende Sehnsucht nach dem vermißten Gegenstande das ganze Gemüth erfüllen. Dies ist der Grundzug der Liebe, der ihr Gegenstand unentbehrlich ist, und die jede mögliche Ahndung von räumlich oder geisti- ger Trennung verabscheut. Es ist bekannt daß sie durch ihre mancherley Veranlassungen näher bestimmt wird, auch

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/185>, abgerufen am 24.11.2024.