Blicken wir nun in den zweyten Theil jenes Wer- kes hinein: so sehen wir sogleich, dass das Versprechen, die geistige Kraft allein für sich hinzustellen, nicht ge- halten worden, vielmehr dieselbe wirklich wie eine psy- chische Seite des Lebens (das heisst, wie ein Stück- chen Modephilosophie,) der Physiologie eingemengt ist. Denn es wird dort der Plan der Untersuchung so ange- legt, dass die Lehre von dem Empfindungsleben zerfällt in die vom Nervensystem, von der Empfindung, von den äussern Sinnen, und -- viertens! -- von dem Seelenleben. Da ist denn wirklich in bunter Reihe, untergeordnet dem Empfindungs-Leben, die Rede von der Urtheilskraft so gut als von den Thierseelen, und von dem Willen ebensowohl als vom Schlaf- Wandeln!
So lange die Physiologie so aussieht, kann die Psy- chologie mit ihr in keine Gemeinschaft treten.
Das Seelenleben ist -- ein verführerisches Wort, aber kein Begriff, der ein wissenschaftliches Gepräge hat. Freylich beginnt hier der Sprachgebrauch die Verwirrung, indem er den Ausdruck Leben für zwey ganz und gar -- nicht entgegengesetzte, -- sondern disparate, keiner Ver- gleichung fähige, Begriffe, zugleich anwendet. Alle phy- siologischen Erscheinungen, sowohl jene, vermöge deren die Nerven als Leiter der Sinnes-Affectionen und der Willens-Regungen betrachtet werden, als die der Irritabilität und der Ernährung, fallen in den Raum. Aber alle Fragen, wie Materie, gleichviel ob todt oder belebt, im Raume existiren und wirken könne, fallen in die Metaphysik. Wenn dieses forum seine Schuldigkeit nicht thut, so haben das die Physiologen nicht zu ver- antworten; wollen sie aber über jene Fragen nicht bloss mitreden, sondern mit untersuchen, so müssen sie -- das ist unerlasslich! -- erst Metaphysiker werden. Alles, was sie, ohne diese Bedingung zu erfüllen, darüber vorbrin- gen, ist so beschaffen, dass statt dessen nichts anderes als ein ganz reines, unumwundenes Bekenntniss der völ-
Blicken wir nun in den zweyten Theil jenes Wer- kes hinein: so sehen wir sogleich, daſs das Versprechen, die geistige Kraft allein für sich hinzustellen, nicht ge- halten worden, vielmehr dieselbe wirklich wie eine psy- chische Seite des Lebens (das heiſst, wie ein Stück- chen Modephilosophie,) der Physiologie eingemengt ist. Denn es wird dort der Plan der Untersuchung so ange- legt, daſs die Lehre von dem Empfindungsleben zerfällt in die vom Nervensystem, von der Empfindung, von den äuſsern Sinnen, und — viertens! — von dem Seelenleben. Da ist denn wirklich in bunter Reihe, untergeordnet dem Empfindungs-Leben, die Rede von der Urtheilskraft so gut als von den Thierseelen, und von dem Willen ebensowohl als vom Schlaf- Wandeln!
So lange die Physiologie so aussieht, kann die Psy- chologie mit ihr in keine Gemeinschaft treten.
Das Seelenleben ist — ein verführerisches Wort, aber kein Begriff, der ein wissenschaftliches Gepräge hat. Freylich beginnt hier der Sprachgebrauch die Verwirrung, indem er den Ausdruck Leben für zwey ganz und gar — nicht entgegengesetzte, — sondern disparate, keiner Ver- gleichung fähige, Begriffe, zugleich anwendet. Alle phy- siologischen Erscheinungen, sowohl jene, vermöge deren die Nerven als Leiter der Sinnes-Affectionen und der Willens-Regungen betrachtet werden, als die der Irritabilität und der Ernährung, fallen in den Raum. Aber alle Fragen, wie Materie, gleichviel ob todt oder belebt, im Raume existiren und wirken könne, fallen in die Metaphysik. Wenn dieses forum seine Schuldigkeit nicht thut, so haben das die Physiologen nicht zu ver- antworten; wollen sie aber über jene Fragen nicht bloſs mitreden, sondern mit untersuchen, so müssen sie — das ist unerlaſslich! — erst Metaphysiker werden. Alles, was sie, ohne diese Bedingung zu erfüllen, darüber vorbrin- gen, ist so beschaffen, daſs statt dessen nichts anderes als ein ganz reines, unumwundenes Bekenntniſs der völ-
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[56/0091]
Blicken wir nun in den zweyten Theil jenes Wer-
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halten worden, vielmehr dieselbe wirklich wie eine psy-
chische Seite des Lebens (das heiſst, wie ein Stück-
chen Modephilosophie,) der Physiologie eingemengt ist.
Denn es wird dort der Plan der Untersuchung so ange-
legt, daſs die Lehre von dem Empfindungsleben
zerfällt in die vom Nervensystem, von der Empfindung,
von den äuſsern Sinnen, und — viertens! — von dem
Seelenleben. Da ist denn wirklich in bunter Reihe,
untergeordnet dem Empfindungs-Leben, die Rede
von der Urtheilskraft so gut als von den Thierseelen,
und von dem Willen ebensowohl als vom Schlaf-
Wandeln!
So lange die Physiologie so aussieht, kann die Psy-
chologie mit ihr in keine Gemeinschaft treten.
Das Seelenleben ist — ein verführerisches Wort,
aber kein Begriff, der ein wissenschaftliches Gepräge hat.
Freylich beginnt hier der Sprachgebrauch die Verwirrung,
indem er den Ausdruck Leben für zwey ganz und gar —
nicht entgegengesetzte, — sondern disparate, keiner Ver-
gleichung fähige, Begriffe, zugleich anwendet. Alle phy-
siologischen Erscheinungen, sowohl jene, vermöge
deren die Nerven als Leiter der Sinnes-Affectionen und
der Willens-Regungen betrachtet werden, als die der
Irritabilität und der Ernährung, fallen in den Raum.
Aber alle Fragen, wie Materie, gleichviel ob todt oder
belebt, im Raume existiren und wirken könne, fallen in
die Metaphysik. Wenn dieses forum seine Schuldigkeit
nicht thut, so haben das die Physiologen nicht zu ver-
antworten; wollen sie aber über jene Fragen nicht bloſs
mitreden, sondern mit untersuchen, so müssen sie — das
ist unerlaſslich! — erst Metaphysiker werden. Alles, was
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/91>, abgerufen am 25.11.2024.
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