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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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leiblichen Lebens giebt, an die sie in der That nicht
aufs entfernteste gedacht haben. Indess mache ich mir
wenig Hoffnung, diese Herrn zu überzeugen. Die Meta-
physik ist so oft todt gesagt worden, dass sich das Le-
ben längst ihrer Aufsicht entbunden glaubte, und um
desto williger, in der Theorie wenigstens, mit sich spie-
len liess. Nun ist zwar schon Mancher des Spiels müde
geworden; aber man findet in der Regel, dass Diejeni-
gen, die sich einmal das Geständniss ablegen mussten,
in der Theorie geirrt zu haben, von diesem Zeitpuncte
an bloss noch auf reine Erfahrung hören mögen; für jede
neue Theorie aber taub sind. Und dies ist einer von
den Gründen, weshalb ich den letzten Abschnitt dieses
Buchs nicht ausführlicher bearbeitet habe. Die Leser,
für welche ich schrieb, wissen ohne Zweifel, dass man
den Geist nicht herleiten kann aus dem Leibe; und um
der Versuchung, in welche sie durch falsche Theorien
gerathen könnten, Widerstand zu leisten, dazu werden
sie am Ende dieses Buchs mehr Hülfe finden, als sie
brauchen. Eine philosophische Beleuchtung der Physio-
logie erfordert durchaus die genaueste metaphysische Aus-
einandersetzung der Lehre von der Materie und vom in-
telligibeln Raume; diese aber ist den psychologischen
Untersuchungen völlig fremdartig; und wer sie in einem
Anhange zu den letztern vollständig verlangt, der weiss
nicht, was er fordert.

Anmerkung.

Die Anmaassung der Physiologie gegen die Psycho-
logie, als ob sie dieselbe ihren höchst schwankenden
Meinungen, die im besten Falle mit den offensten Be-
kenntnissen der Unwissenheit gerade in den wichtigsten
Puncten zu endigen pflegen, -- unterordnen könnten:
ist heut zu Tage so allgemein, dass man sie nicht etwa
bloss bey den sogenannten Naturphilosophen, sondern
auch bey solchen Schriftstellern findet, welche sich durch
kritischen Geist und geordnete Schreibart eben so sehr

leiblichen Lebens giebt, an die sie in der That nicht
aufs entfernteste gedacht haben. Indeſs mache ich mir
wenig Hoffnung, diese Herrn zu überzeugen. Die Meta-
physik ist so oft todt gesagt worden, daſs sich das Le-
ben längst ihrer Aufsicht entbunden glaubte, und um
desto williger, in der Theorie wenigstens, mit sich spie-
len lieſs. Nun ist zwar schon Mancher des Spiels müde
geworden; aber man findet in der Regel, daſs Diejeni-
gen, die sich einmal das Geständniſs ablegen muſsten,
in der Theorie geirrt zu haben, von diesem Zeitpuncte
an bloſs noch auf reine Erfahrung hören mögen; für jede
neue Theorie aber taub sind. Und dies ist einer von
den Gründen, weshalb ich den letzten Abschnitt dieses
Buchs nicht ausführlicher bearbeitet habe. Die Leser,
für welche ich schrieb, wissen ohne Zweifel, daſs man
den Geist nicht herleiten kann aus dem Leibe; und um
der Versuchung, in welche sie durch falsche Theorien
gerathen könnten, Widerstand zu leisten, dazu werden
sie am Ende dieses Buchs mehr Hülfe finden, als sie
brauchen. Eine philosophische Beleuchtung der Physio-
logie erfordert durchaus die genaueste metaphysische Aus-
einandersetzung der Lehre von der Materie und vom in-
telligibeln Raume; diese aber ist den psychologischen
Untersuchungen völlig fremdartig; und wer sie in einem
Anhange zu den letztern vollständig verlangt, der weiſs
nicht, was er fordert.

Anmerkung.

Die Anmaaſsung der Physiologie gegen die Psycho-
logie, als ob sie dieselbe ihren höchst schwankenden
Meinungen, die im besten Falle mit den offensten Be-
kenntnissen der Unwissenheit gerade in den wichtigsten
Puncten zu endigen pflegen, — unterordnen könnten:
ist heut zu Tage so allgemein, daſs man sie nicht etwa
bloſs bey den sogenannten Naturphilosophen, sondern
auch bey solchen Schriftstellern findet, welche sich durch
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[53/0088] leiblichen Lebens giebt, an die sie in der That nicht aufs entfernteste gedacht haben. Indeſs mache ich mir wenig Hoffnung, diese Herrn zu überzeugen. Die Meta- physik ist so oft todt gesagt worden, daſs sich das Le- ben längst ihrer Aufsicht entbunden glaubte, und um desto williger, in der Theorie wenigstens, mit sich spie- len lieſs. Nun ist zwar schon Mancher des Spiels müde geworden; aber man findet in der Regel, daſs Diejeni- gen, die sich einmal das Geständniſs ablegen muſsten, in der Theorie geirrt zu haben, von diesem Zeitpuncte an bloſs noch auf reine Erfahrung hören mögen; für jede neue Theorie aber taub sind. Und dies ist einer von den Gründen, weshalb ich den letzten Abschnitt dieses Buchs nicht ausführlicher bearbeitet habe. Die Leser, für welche ich schrieb, wissen ohne Zweifel, daſs man den Geist nicht herleiten kann aus dem Leibe; und um der Versuchung, in welche sie durch falsche Theorien gerathen könnten, Widerstand zu leisten, dazu werden sie am Ende dieses Buchs mehr Hülfe finden, als sie brauchen. Eine philosophische Beleuchtung der Physio- logie erfordert durchaus die genaueste metaphysische Aus- einandersetzung der Lehre von der Materie und vom in- telligibeln Raume; diese aber ist den psychologischen Untersuchungen völlig fremdartig; und wer sie in einem Anhange zu den letztern vollständig verlangt, der weiſs nicht, was er fordert. Anmerkung. Die Anmaaſsung der Physiologie gegen die Psycho- logie, als ob sie dieselbe ihren höchst schwankenden Meinungen, die im besten Falle mit den offensten Be- kenntnissen der Unwissenheit gerade in den wichtigsten Puncten zu endigen pflegen, — unterordnen könnten: ist heut zu Tage so allgemein, daſs man sie nicht etwa bloſs bey den sogenannten Naturphilosophen, sondern auch bey solchen Schriftstellern findet, welche sich durch kritischen Geist und geordnete Schreibart eben so sehr

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/88>, abgerufen am 24.11.2024.