Hingegen Vernunft ist das Vermögen, dasjenige zu vernehmen, wofür der Unvernünftige taub ist; und das sind -- Gründe. Also: Vernunft ist das Vermö- gen, zu überlegen, und nach dem Ergebniss der Ueberlegung sich zu bestimmen.
Dem Unvernünftigen (z. B. dem Inquisitor) muthen wir an, dass er anderen Betrachtungen Gehör gebe; dem Unverständigen, dass er seine eigenen, schon vorhandenen Gedanken vollends entwickele.
Kein Wunder, dass man Begriffe dem Verstande zueignet, und Schlüsse der Vernunft. Jene bestimmen die Qualität des Vorgestellten; diese fügen eins zum an- dern, den Untersatz zum Obersatze. Aber dadurch allein würde noch keine brauchbare Namenerklärung gewonnen seyn; wie tiefer unten ausführlicher soll gezeigt werden. Hier kümmern wir uns nicht um die Bestimmungen der Schulen, sondern um den Sprachgebrauch; denn wir reden nicht von wirklichen Dingen, sondern vom Sinn der Worte, von den allgemein vorhandenen Auffassun- gen, die durch sie angezeigt werden. Wir meinen dem- nach nicht, es gebe nun wirklich ein besonderes Vermögen, das dazu bestellt sey, die Gedanken nach der Qualität des Gedachten zurechtzustutzen; auch nicht, es sey wirklich die Sache eines eignen Vermögens, zur Ueberlegung, zur innern Berathschlagung die sämmtlichen stimmfähigen Meinungen und Absichten zu berufen, wäh- rend ihres Votirens und Streitens das Protokoll zu füh- ren, und das letzte Resultat in die innere Gesetzsamm- lung einzutragen: wohl aber bemerken wir, dass etwas dem ähnliches wirklich in uns vorgeht; wir fassen es auf, heben es weg, und sehen nach, was tiefer darunter ver- borgen liegen möge?
Hingegen Vernunft ist das Vermögen, dasjenige zu vernehmen, wofür der Unvernünftige taub ist; und das sind — Gründe. Also: Vernunft ist das Vermö- gen, zu überlegen, und nach dem Ergebniſs der Ueberlegung sich zu bestimmen.
Dem Unvernünftigen (z. B. dem Inquisitor) muthen wir an, daſs er anderen Betrachtungen Gehör gebe; dem Unverständigen, daſs er seine eigenen, schon vorhandenen Gedanken vollends entwickele.
Kein Wunder, daſs man Begriffe dem Verstande zueignet, und Schlüsse der Vernunft. Jene bestimmen die Qualität des Vorgestellten; diese fügen eins zum an- dern, den Untersatz zum Obersatze. Aber dadurch allein würde noch keine brauchbare Namenerklärung gewonnen seyn; wie tiefer unten ausführlicher soll gezeigt werden. Hier kümmern wir uns nicht um die Bestimmungen der Schulen, sondern um den Sprachgebrauch; denn wir reden nicht von wirklichen Dingen, sondern vom Sinn der Worte, von den allgemein vorhandenen Auffassun- gen, die durch sie angezeigt werden. Wir meinen dem- nach nicht, es gebe nun wirklich ein besonderes Vermögen, das dazu bestellt sey, die Gedanken nach der Qualität des Gedachten zurechtzustutzen; auch nicht, es sey wirklich die Sache eines eignen Vermögens, zur Ueberlegung, zur innern Berathschlagung die sämmtlichen stimmfähigen Meinungen und Absichten zu berufen, wäh- rend ihres Votirens und Streitens das Protokoll zu füh- ren, und das letzte Resultat in die innere Gesetzsamm- lung einzutragen: wohl aber bemerken wir, daſs etwas dem ähnliches wirklich in uns vorgeht; wir fassen es auf, heben es weg, und sehen nach, was tiefer darunter ver- borgen liegen möge?
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Hingegen Vernunft ist das Vermögen, dasjenige zu
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gen, zu überlegen, und nach dem Ergebniſs der
Ueberlegung sich zu bestimmen.
Dem Unvernünftigen (z. B. dem Inquisitor)
muthen wir an, daſs er anderen Betrachtungen
Gehör gebe; dem Unverständigen, daſs er seine
eigenen, schon vorhandenen Gedanken vollends
entwickele.
Kein Wunder, daſs man Begriffe dem Verstande
zueignet, und Schlüsse der Vernunft. Jene bestimmen
die Qualität des Vorgestellten; diese fügen eins zum an-
dern, den Untersatz zum Obersatze. Aber dadurch allein
würde noch keine brauchbare Namenerklärung gewonnen
seyn; wie tiefer unten ausführlicher soll gezeigt werden.
Hier kümmern wir uns nicht um die Bestimmungen der
Schulen, sondern um den Sprachgebrauch; denn wir
reden nicht von wirklichen Dingen, sondern vom Sinn
der Worte, von den allgemein vorhandenen Auffassun-
gen, die durch sie angezeigt werden. Wir meinen dem-
nach nicht, es gebe nun wirklich ein besonderes
Vermögen, das dazu bestellt sey, die Gedanken nach der
Qualität des Gedachten zurechtzustutzen; auch nicht, es
sey wirklich die Sache eines eignen Vermögens, zur
Ueberlegung, zur innern Berathschlagung die sämmtlichen
stimmfähigen Meinungen und Absichten zu berufen, wäh-
rend ihres Votirens und Streitens das Protokoll zu füh-
ren, und das letzte Resultat in die innere Gesetzsamm-
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/75>, abgerufen am 24.11.2024.
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