Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

Bild:
<< vorherige Seite

Hingegen Vernunft ist das Vermögen, dasjenige zu
vernehmen, wofür der Unvernünftige taub ist; und das
sind -- Gründe. Also: Vernunft ist das Vermö-
gen, zu überlegen, und nach dem Ergebniss der
Ueberlegung sich zu bestimmen
.

Dem Unvernünftigen (z. B. dem Inquisitor)
muthen wir an, dass er anderen Betrachtungen
Gehör gebe; dem Unverständigen, dass er seine
eigenen, schon vorhandenen Gedanken vollends
entwickele
.

Kein Wunder, dass man Begriffe dem Verstande
zueignet, und Schlüsse der Vernunft. Jene bestimmen
die Qualität des Vorgestellten; diese fügen eins zum an-
dern, den Untersatz zum Obersatze. Aber dadurch allein
würde noch keine brauchbare Namenerklärung gewonnen
seyn; wie tiefer unten ausführlicher soll gezeigt werden.
Hier kümmern wir uns nicht um die Bestimmungen der
Schulen, sondern um den Sprachgebrauch; denn wir
reden nicht von wirklichen Dingen, sondern vom Sinn
der Worte, von den allgemein vorhandenen Auffassun-
gen, die durch sie angezeigt werden. Wir meinen dem-
nach nicht, es gebe nun wirklich ein besonderes
Vermögen, das dazu bestellt sey, die Gedanken nach der
Qualität des Gedachten zurechtzustutzen; auch nicht, es
sey wirklich die Sache eines eignen Vermögens, zur
Ueberlegung, zur innern Berathschlagung die sämmtlichen
stimmfähigen Meinungen und Absichten zu berufen, wäh-
rend ihres Votirens und Streitens das Protokoll zu füh-
ren, und das letzte Resultat in die innere Gesetzsamm-
lung einzutragen: wohl aber bemerken wir, dass etwas
dem ähnliches wirklich in uns vorgeht; wir fassen es auf,
heben es weg, und sehen nach, was tiefer darunter ver-
borgen liegen möge?


Hingegen Vernunft ist das Vermögen, dasjenige zu
vernehmen, wofür der Unvernünftige taub ist; und das
sind — Gründe. Also: Vernunft ist das Vermö-
gen, zu überlegen, und nach dem Ergebniſs der
Ueberlegung sich zu bestimmen
.

Dem Unvernünftigen (z. B. dem Inquisitor)
muthen wir an, daſs er anderen Betrachtungen
Gehör gebe; dem Unverständigen, daſs er seine
eigenen, schon vorhandenen Gedanken vollends
entwickele
.

Kein Wunder, daſs man Begriffe dem Verstande
zueignet, und Schlüsse der Vernunft. Jene bestimmen
die Qualität des Vorgestellten; diese fügen eins zum an-
dern, den Untersatz zum Obersatze. Aber dadurch allein
würde noch keine brauchbare Namenerklärung gewonnen
seyn; wie tiefer unten ausführlicher soll gezeigt werden.
Hier kümmern wir uns nicht um die Bestimmungen der
Schulen, sondern um den Sprachgebrauch; denn wir
reden nicht von wirklichen Dingen, sondern vom Sinn
der Worte, von den allgemein vorhandenen Auffassun-
gen, die durch sie angezeigt werden. Wir meinen dem-
nach nicht, es gebe nun wirklich ein besonderes
Vermögen, das dazu bestellt sey, die Gedanken nach der
Qualität des Gedachten zurechtzustutzen; auch nicht, es
sey wirklich die Sache eines eignen Vermögens, zur
Ueberlegung, zur innern Berathschlagung die sämmtlichen
stimmfähigen Meinungen und Absichten zu berufen, wäh-
rend ihres Votirens und Streitens das Protokoll zu füh-
ren, und das letzte Resultat in die innere Gesetzsamm-
lung einzutragen: wohl aber bemerken wir, daſs etwas
dem ähnliches wirklich in uns vorgeht; wir fassen es auf,
heben es weg, und sehen nach, was tiefer darunter ver-
borgen liegen möge?


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0075" n="40"/>
          <p>Hingegen Vernunft ist das Vermögen, dasjenige zu<lb/>
vernehmen, wofür der Unvernünftige taub ist; und das<lb/>
sind &#x2014; <hi rendition="#g">Gründe</hi>. Also: <hi rendition="#g">Vernunft ist das Vermö-<lb/>
gen, zu überlegen, und nach dem Ergebni&#x017F;s der<lb/>
Ueberlegung sich zu bestimmen</hi>.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Dem Unvernünftigen</hi> (z. B. dem Inquisitor)<lb/><hi rendition="#g">muthen wir an, da&#x017F;s er <hi rendition="#i">anderen</hi> Betrachtungen<lb/><hi rendition="#i">Gehör gebe;</hi> dem Unverständigen, da&#x017F;s er seine<lb/>
eigenen, <hi rendition="#i">schon vorhandenen</hi> Gedanken <hi rendition="#i">vollends<lb/>
entwickele</hi></hi>.</p><lb/>
          <p>Kein Wunder, da&#x017F;s man <hi rendition="#g">Begriffe</hi> dem Verstande<lb/>
zueignet, und <hi rendition="#g">Schlüsse</hi> der Vernunft. Jene bestimmen<lb/>
die Qualität des Vorgestellten; diese fügen eins zum an-<lb/>
dern, den Untersatz zum Obersatze. Aber dadurch allein<lb/>
würde noch keine brauchbare Namenerklärung gewonnen<lb/>
seyn; wie tiefer unten ausführlicher soll gezeigt werden.<lb/>
Hier kümmern wir uns nicht um die Bestimmungen der<lb/>
Schulen, sondern um den Sprachgebrauch; denn wir<lb/>
reden nicht von wirklichen Dingen, sondern vom Sinn<lb/>
der Worte, von den allgemein vorhandenen Auffassun-<lb/>
gen, die durch sie angezeigt werden. Wir meinen dem-<lb/>
nach nicht, es <hi rendition="#g">gebe nun wirklich</hi> ein <hi rendition="#g">besonderes</hi><lb/>
Vermögen, das dazu bestellt sey, die Gedanken nach der<lb/>
Qualität des Gedachten zurechtzustutzen; auch nicht, es<lb/>
sey wirklich die Sache eines <hi rendition="#g">eignen</hi> Vermögens, zur<lb/>
Ueberlegung, zur innern Berathschlagung die sämmtlichen<lb/>
stimmfähigen Meinungen und Absichten zu berufen, wäh-<lb/>
rend ihres Votirens und Streitens das Protokoll zu füh-<lb/>
ren, und das letzte Resultat in die innere Gesetzsamm-<lb/>
lung einzutragen: wohl aber bemerken wir, da&#x017F;s etwas<lb/>
dem ähnliches wirklich in uns vorgeht; wir fassen es auf,<lb/>
heben es weg, und sehen nach, was tiefer darunter ver-<lb/>
borgen liegen möge?</p>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[40/0075] Hingegen Vernunft ist das Vermögen, dasjenige zu vernehmen, wofür der Unvernünftige taub ist; und das sind — Gründe. Also: Vernunft ist das Vermö- gen, zu überlegen, und nach dem Ergebniſs der Ueberlegung sich zu bestimmen. Dem Unvernünftigen (z. B. dem Inquisitor) muthen wir an, daſs er anderen Betrachtungen Gehör gebe; dem Unverständigen, daſs er seine eigenen, schon vorhandenen Gedanken vollends entwickele. Kein Wunder, daſs man Begriffe dem Verstande zueignet, und Schlüsse der Vernunft. Jene bestimmen die Qualität des Vorgestellten; diese fügen eins zum an- dern, den Untersatz zum Obersatze. Aber dadurch allein würde noch keine brauchbare Namenerklärung gewonnen seyn; wie tiefer unten ausführlicher soll gezeigt werden. Hier kümmern wir uns nicht um die Bestimmungen der Schulen, sondern um den Sprachgebrauch; denn wir reden nicht von wirklichen Dingen, sondern vom Sinn der Worte, von den allgemein vorhandenen Auffassun- gen, die durch sie angezeigt werden. Wir meinen dem- nach nicht, es gebe nun wirklich ein besonderes Vermögen, das dazu bestellt sey, die Gedanken nach der Qualität des Gedachten zurechtzustutzen; auch nicht, es sey wirklich die Sache eines eignen Vermögens, zur Ueberlegung, zur innern Berathschlagung die sämmtlichen stimmfähigen Meinungen und Absichten zu berufen, wäh- rend ihres Votirens und Streitens das Protokoll zu füh- ren, und das letzte Resultat in die innere Gesetzsamm- lung einzutragen: wohl aber bemerken wir, daſs etwas dem ähnliches wirklich in uns vorgeht; wir fassen es auf, heben es weg, und sehen nach, was tiefer darunter ver- borgen liegen möge?

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/75
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/75>, abgerufen am 24.11.2024.