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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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vom Physiologen. Denn der Staat besteht ganz deutlich
aus einer endlichen Zahl von Menschen; diese sind
zufällig in demselben beysammen; man kann auch Je-
den, einzeln genommen, befragen um seine Gesinnung,
und beobachten in seinem Handeln. Hingegen die leben-
digen Leiber bestehn aus Materie; diese ist nach dem
irrigen Vorgeben fast aller Physiker und Metaphysi-
ker ins Unendliche theilbar; aus diesem Irrthume hilft
keinesweges die Erfahrung; man kann die einzelnen Theile
nicht beobachten; man sieht zwar, dass die Nahrungsmit-
tel zufällig hineinkommen, aber es ist schwer, diesen
Wink der Erfahrung zu verstehen; und unsre Zeit hat
sich nun vollends in die Unwahrheit verliebt: im Or-
ganismus gehe das Ganze den Theilen voran
.

Sollte sich jemals ein Staatsmann dahin verlieren,
diesen Irrthum auf den Staat zu übertragen, so wird er
wenigstens den Zwang fühlen müssen, den ihm unauf-
hörlich die Erfahrung entgegensetzt.

So gewiss aber, allen falschen Auslegungen zum
Trotz, die Analogie zwischen dem Staate, dem Organis-
mus, und dem System der Vorstellungen im denkenden
Geiste, wirklich vorhanden ist: eben so gewiss wird auch
dereinst die wahre Psychologie bis dahin durchdringen,
wo jetzt noch, im Scheine von Irrlichtern, Gespenster
umherschweben. Das heisst: die nämlichen Grundsätze
der Mechanik des Geistes, welche die Reizbarkeit der
Vorstellungsreihen erklären, werden auch das organische
Leben, als eine Verkettung einfacher Wesen, und die
lebendige Kraft des Staats, als einer Verbindung von
einzelnen Menschen, auf ähnliche Weise begreiflich ma-
chen. Dann wird man die Kunst des Staatsmanns bes-
ser schätzen, -- aber auch die unendlich höhere Kunst,
welche das organische Leben schuf, reiner verehren
als heute.

Ungeachtet der erwähnten Analogie zwischen dreyen
Gegenständen, die beynahe das Wichtigste sind, was in
die Sphäre der menschlichen Untersuchung fällt, muss

II. C

vom Physiologen. Denn der Staat besteht ganz deutlich
aus einer endlichen Zahl von Menschen; diese sind
zufällig in demselben beysammen; man kann auch Je-
den, einzeln genommen, befragen um seine Gesinnung,
und beobachten in seinem Handeln. Hingegen die leben-
digen Leiber bestehn aus Materie; diese ist nach dem
irrigen Vorgeben fast aller Physiker und Metaphysi-
ker ins Unendliche theilbar; aus diesem Irrthume hilft
keinesweges die Erfahrung; man kann die einzelnen Theile
nicht beobachten; man sieht zwar, daſs die Nahrungsmit-
tel zufällig hineinkommen, aber es ist schwer, diesen
Wink der Erfahrung zu verstehen; und unsre Zeit hat
sich nun vollends in die Unwahrheit verliebt: im Or-
ganismus gehe das Ganze den Theilen voran
.

Sollte sich jemals ein Staatsmann dahin verlieren,
diesen Irrthum auf den Staat zu übertragen, so wird er
wenigstens den Zwang fühlen müssen, den ihm unauf-
hörlich die Erfahrung entgegensetzt.

So gewiſs aber, allen falschen Auslegungen zum
Trotz, die Analogie zwischen dem Staate, dem Organis-
mus, und dem System der Vorstellungen im denkenden
Geiste, wirklich vorhanden ist: eben so gewiſs wird auch
dereinst die wahre Psychologie bis dahin durchdringen,
wo jetzt noch, im Scheine von Irrlichtern, Gespenster
umherschweben. Das heiſst: die nämlichen Grundsätze
der Mechanik des Geistes, welche die Reizbarkeit der
Vorstellungsreihen erklären, werden auch das organische
Leben, als eine Verkettung einfacher Wesen, und die
lebendige Kraft des Staats, als einer Verbindung von
einzelnen Menschen, auf ähnliche Weise begreiflich ma-
chen. Dann wird man die Kunst des Staatsmanns bes-
ser schätzen, — aber auch die unendlich höhere Kunst,
welche das organische Leben schuf, reiner verehren
als heute.

Ungeachtet der erwähnten Analogie zwischen dreyen
Gegenständen, die beynahe das Wichtigste sind, was in
die Sphäre der menschlichen Untersuchung fällt, muſs

II. C
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[33/0068] vom Physiologen. Denn der Staat besteht ganz deutlich aus einer endlichen Zahl von Menschen; diese sind zufällig in demselben beysammen; man kann auch Je- den, einzeln genommen, befragen um seine Gesinnung, und beobachten in seinem Handeln. Hingegen die leben- digen Leiber bestehn aus Materie; diese ist nach dem irrigen Vorgeben fast aller Physiker und Metaphysi- ker ins Unendliche theilbar; aus diesem Irrthume hilft keinesweges die Erfahrung; man kann die einzelnen Theile nicht beobachten; man sieht zwar, daſs die Nahrungsmit- tel zufällig hineinkommen, aber es ist schwer, diesen Wink der Erfahrung zu verstehen; und unsre Zeit hat sich nun vollends in die Unwahrheit verliebt: im Or- ganismus gehe das Ganze den Theilen voran. Sollte sich jemals ein Staatsmann dahin verlieren, diesen Irrthum auf den Staat zu übertragen, so wird er wenigstens den Zwang fühlen müssen, den ihm unauf- hörlich die Erfahrung entgegensetzt. So gewiſs aber, allen falschen Auslegungen zum Trotz, die Analogie zwischen dem Staate, dem Organis- mus, und dem System der Vorstellungen im denkenden Geiste, wirklich vorhanden ist: eben so gewiſs wird auch dereinst die wahre Psychologie bis dahin durchdringen, wo jetzt noch, im Scheine von Irrlichtern, Gespenster umherschweben. Das heiſst: die nämlichen Grundsätze der Mechanik des Geistes, welche die Reizbarkeit der Vorstellungsreihen erklären, werden auch das organische Leben, als eine Verkettung einfacher Wesen, und die lebendige Kraft des Staats, als einer Verbindung von einzelnen Menschen, auf ähnliche Weise begreiflich ma- chen. Dann wird man die Kunst des Staatsmanns bes- ser schätzen, — aber auch die unendlich höhere Kunst, welche das organische Leben schuf, reiner verehren als heute. Ungeachtet der erwähnten Analogie zwischen dreyen Gegenständen, die beynahe das Wichtigste sind, was in die Sphäre der menschlichen Untersuchung fällt, muſs II. C

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/68>, abgerufen am 22.11.2024.