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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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die falsche Theorie stand von den Thatsachen getrennt,
und der Zusammenhang der letzteren unter einander liess
sich durch jene nicht begreifen. Wenn in müssigen
Stunden psychologische Reflexionen angestellt wurden, die
der Geschichte nachschlichen, so brachten diese nichts
weiter zu Tage, als einen Kitt, den man in die gähnende
Spalte zwischen Theorie und Empirie hineinstrich, um
sie weniger sichtbar zu machen.

Die Psychologie behielt keine Aehnlichkeit mit der
Naturwissenschaft, deren rascher Gang die träge Schwe-
ster gänzlich hinter sich zurückliess. Der traurigste Con-
trast zwischen der Gesetzmässigkeit der Körperwelt, und
der scheinbaren Gesetzlosigkeit der Geistes-Vermögen, die
nach Lust und Laune zu wirken schienen, wann und
wieviel ihnen eben beliebte, wurde mit jeder Entdeckung
der Physiker, mit jeder Berechnung der Astronomen, stär-
ker und auffallender. So blieben diejenigen zurück, die da
meinten, von dem Menschen und für den Menschen zu
philosophiren; so blieben sie zurück hinter jenen, die den
Himmel nicht zu hoch fanden, weil sie ihn mit ihren
Beobachtungen erreichen, und seine Ereignisse durch
Rechnungen verfolgen konnten. -- Man schwärmte
endlich von der Freyheit, gerade da die bürgerliche Selbst-
ständigkeit verloren ging; es ist Zeit, die Begriffe über
Freyheit und Natur des menschlichen Geistes zu berich-
tigen, damit man der geretteten Nationalität sich zu be-
dienen wisse. Aber es scheint leider! man werde zuvor
noch manche alte Sünden abzubüssen, ältere und neuere
Irrthümer abzuschwören haben!

Wenn ein Schriftsteller seine Hoffnung, oder nur
seinen Wunsch äussert, dass grosse Uebel in grosser An-
zahl verschwinden möchten durch Verbesserung eines ein-
zigen Hauptpunctes; ja wenn er selbst zu dieser Verbes-
serung einen Beytrag zu liefern versucht: dann ist man
im Publicum meistens sehr eilig, ihm Schwärmerey und
Anmaassung vorzuwerfen. Wiewohl sich nun das ertra-
gen lässt, schon für das Bewusstseyn, mit redlichem Wil-

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die falsche Theorie stand von den Thatsachen getrennt,
und der Zusammenhang der letzteren unter einander lieſs
sich durch jene nicht begreifen. Wenn in müſsigen
Stunden psychologische Reflexionen angestellt wurden, die
der Geschichte nachschlichen, so brachten diese nichts
weiter zu Tage, als einen Kitt, den man in die gähnende
Spalte zwischen Theorie und Empirie hineinstrich, um
sie weniger sichtbar zu machen.

Die Psychologie behielt keine Aehnlichkeit mit der
Naturwissenschaft, deren rascher Gang die träge Schwe-
ster gänzlich hinter sich zurücklieſs. Der traurigste Con-
trast zwischen der Gesetzmäſsigkeit der Körperwelt, und
der scheinbaren Gesetzlosigkeit der Geistes-Vermögen, die
nach Lust und Laune zu wirken schienen, wann und
wieviel ihnen eben beliebte, wurde mit jeder Entdeckung
der Physiker, mit jeder Berechnung der Astronomen, stär-
ker und auffallender. So blieben diejenigen zurück, die da
meinten, von dem Menschen und für den Menschen zu
philosophiren; so blieben sie zurück hinter jenen, die den
Himmel nicht zu hoch fanden, weil sie ihn mit ihren
Beobachtungen erreichen, und seine Ereignisse durch
Rechnungen verfolgen konnten. — Man schwärmte
endlich von der Freyheit, gerade da die bürgerliche Selbst-
ständigkeit verloren ging; es ist Zeit, die Begriffe über
Freyheit und Natur des menschlichen Geistes zu berich-
tigen, damit man der geretteten Nationalität sich zu be-
dienen wisse. Aber es scheint leider! man werde zuvor
noch manche alte Sünden abzubüſsen, ältere und neuere
Irrthümer abzuschwören haben!

Wenn ein Schriftsteller seine Hoffnung, oder nur
seinen Wunsch äuſsert, daſs groſse Uebel in groſser An-
zahl verschwinden möchten durch Verbesserung eines ein-
zigen Hauptpunctes; ja wenn er selbst zu dieser Verbes-
serung einen Beytrag zu liefern versucht: dann ist man
im Publicum meistens sehr eilig, ihm Schwärmerey und
Anmaaſsung vorzuwerfen. Wiewohl sich nun das ertra-
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[531/0566] die falsche Theorie stand von den Thatsachen getrennt, und der Zusammenhang der letzteren unter einander lieſs sich durch jene nicht begreifen. Wenn in müſsigen Stunden psychologische Reflexionen angestellt wurden, die der Geschichte nachschlichen, so brachten diese nichts weiter zu Tage, als einen Kitt, den man in die gähnende Spalte zwischen Theorie und Empirie hineinstrich, um sie weniger sichtbar zu machen. Die Psychologie behielt keine Aehnlichkeit mit der Naturwissenschaft, deren rascher Gang die träge Schwe- ster gänzlich hinter sich zurücklieſs. Der traurigste Con- trast zwischen der Gesetzmäſsigkeit der Körperwelt, und der scheinbaren Gesetzlosigkeit der Geistes-Vermögen, die nach Lust und Laune zu wirken schienen, wann und wieviel ihnen eben beliebte, wurde mit jeder Entdeckung der Physiker, mit jeder Berechnung der Astronomen, stär- ker und auffallender. So blieben diejenigen zurück, die da meinten, von dem Menschen und für den Menschen zu philosophiren; so blieben sie zurück hinter jenen, die den Himmel nicht zu hoch fanden, weil sie ihn mit ihren Beobachtungen erreichen, und seine Ereignisse durch Rechnungen verfolgen konnten. — Man schwärmte endlich von der Freyheit, gerade da die bürgerliche Selbst- ständigkeit verloren ging; es ist Zeit, die Begriffe über Freyheit und Natur des menschlichen Geistes zu berich- tigen, damit man der geretteten Nationalität sich zu be- dienen wisse. Aber es scheint leider! man werde zuvor noch manche alte Sünden abzubüſsen, ältere und neuere Irrthümer abzuschwören haben! Wenn ein Schriftsteller seine Hoffnung, oder nur seinen Wunsch äuſsert, daſs groſse Uebel in groſser An- zahl verschwinden möchten durch Verbesserung eines ein- zigen Hauptpunctes; ja wenn er selbst zu dieser Verbes- serung einen Beytrag zu liefern versucht: dann ist man im Publicum meistens sehr eilig, ihm Schwärmerey und Anmaaſsung vorzuwerfen. Wiewohl sich nun das ertra- gen läſst, schon für das Bewuſstseyn, mit redlichem Wil- L l 2

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 531. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/566>, abgerufen am 24.11.2024.