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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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befänden, und die nur geweckt zu werden brauchten,
um thätig zu seyn. Man überlegte nicht, was ein schla-
fendes Vermögen
seyn möge, noch was das Wecken
desselben bedeuten solle, -- ob sich mit diesen Worten
überall ein Sinn verbinden lasse; und ob der vermeinte
Sinn sich in der Geschichte der Ausbildung des Men-
schengeschlechts wiedererkennen lasse, ohne zuerst als
ein Vorurtheil in dieselbe hineingetragen zu seyn. Man
ahndete nicht, wie wenig Verstand und Vernunft in der
Welt seyn würde, wenn nicht unter Verhältnissen
der Gesellschaft
eins und das andre erzeugt, und
durch Tradition fortgepflanzt, ja für jede Vorstel-
lungsmasse insbesondere erzeugt
und fortge-
pflanzt würde. Fand sich bey wilden Völkern ein starker,
aber auf die Verschaffung der ersten Lebens- und Kriegs-
bedürfnisse beschränkter, Verstand? Dieser Verstand musste
einseitig gebildet seyn; wie aber bey dem vermeinten or-
ganischen
Baue des Menschengeistes sich die einsei-
tige
Bildung denken lasse? vollends wie es möglich sey,
dass von einem ganzen und vollständigen angebor-
nen Verstande neun und neunzig Hunderttheile im tiefen
Schlafe liegen, und Ein Hunderttheil dabey ganz ordent-
lich wachen könne? Das wurde nicht bedacht. Das
Schreyende dieser Ungereimtheiten hätte die wahre Psy-
chologie aus dem Schoosse der Geschichte hervorrufen
müssen, wären die Köpfe nicht voll von Vorurtheilen ge-
wesen. Fand sich bey verschiedenen gebildeten Völkern
ein ganz verschiedener Stempel der Phantasie, der Sit-
ten und der Gesetzgebung? Man suchte dies, wie billig,
aus den Lebensumständen und den Schicksalen der Na-
tionen zu erklären. Aber dennoch war in der Psycho-
logie immer nur die Rede von einerley Einbildungs-
und Urtheilskraft, in der Meinung, dass diese Dinge in
der ganzen Welt und zu allen Zeiten die nämlichen, an-
geborenen Vermögen wären. -- Was Wunder, wenn
mit einer solchen Psychologie die Politik nichts anfangen
konnte? Aus der Psychologie erklärte sich ja gar nichts,

befänden, und die nur geweckt zu werden brauchten,
um thätig zu seyn. Man überlegte nicht, was ein schla-
fendes Vermögen
seyn möge, noch was das Wecken
desselben bedeuten solle, — ob sich mit diesen Worten
überall ein Sinn verbinden lasse; und ob der vermeinte
Sinn sich in der Geschichte der Ausbildung des Men-
schengeschlechts wiedererkennen lasse, ohne zuerst als
ein Vorurtheil in dieselbe hineingetragen zu seyn. Man
ahndete nicht, wie wenig Verstand und Vernunft in der
Welt seyn würde, wenn nicht unter Verhältnissen
der Gesellschaft
eins und das andre erzeugt, und
durch Tradition fortgepflanzt, ja für jede Vorstel-
lungsmasse insbesondere erzeugt
und fortge-
pflanzt würde. Fand sich bey wilden Völkern ein starker,
aber auf die Verschaffung der ersten Lebens- und Kriegs-
bedürfnisse beschränkter, Verstand? Dieser Verstand muſste
einseitig gebildet seyn; wie aber bey dem vermeinten or-
ganischen
Baue des Menschengeistes sich die einsei-
tige
Bildung denken lasse? vollends wie es möglich sey,
daſs von einem ganzen und vollständigen angebor-
nen Verstande neun und neunzig Hunderttheile im tiefen
Schlafe liegen, und Ein Hunderttheil dabey ganz ordent-
lich wachen könne? Das wurde nicht bedacht. Das
Schreyende dieser Ungereimtheiten hätte die wahre Psy-
chologie aus dem Schooſse der Geschichte hervorrufen
müssen, wären die Köpfe nicht voll von Vorurtheilen ge-
wesen. Fand sich bey verschiedenen gebildeten Völkern
ein ganz verschiedener Stempel der Phantasie, der Sit-
ten und der Gesetzgebung? Man suchte dies, wie billig,
aus den Lebensumständen und den Schicksalen der Na-
tionen zu erklären. Aber dennoch war in der Psycho-
logie immer nur die Rede von einerley Einbildungs-
und Urtheilskraft, in der Meinung, daſs diese Dinge in
der ganzen Welt und zu allen Zeiten die nämlichen, an-
geborenen Vermögen wären. — Was Wunder, wenn
mit einer solchen Psychologie die Politik nichts anfangen
konnte? Aus der Psychologie erklärte sich ja gar nichts,

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[530/0565] befänden, und die nur geweckt zu werden brauchten, um thätig zu seyn. Man überlegte nicht, was ein schla- fendes Vermögen seyn möge, noch was das Wecken desselben bedeuten solle, — ob sich mit diesen Worten überall ein Sinn verbinden lasse; und ob der vermeinte Sinn sich in der Geschichte der Ausbildung des Men- schengeschlechts wiedererkennen lasse, ohne zuerst als ein Vorurtheil in dieselbe hineingetragen zu seyn. Man ahndete nicht, wie wenig Verstand und Vernunft in der Welt seyn würde, wenn nicht unter Verhältnissen der Gesellschaft eins und das andre erzeugt, und durch Tradition fortgepflanzt, ja für jede Vorstel- lungsmasse insbesondere erzeugt und fortge- pflanzt würde. Fand sich bey wilden Völkern ein starker, aber auf die Verschaffung der ersten Lebens- und Kriegs- bedürfnisse beschränkter, Verstand? Dieser Verstand muſste einseitig gebildet seyn; wie aber bey dem vermeinten or- ganischen Baue des Menschengeistes sich die einsei- tige Bildung denken lasse? vollends wie es möglich sey, daſs von einem ganzen und vollständigen angebor- nen Verstande neun und neunzig Hunderttheile im tiefen Schlafe liegen, und Ein Hunderttheil dabey ganz ordent- lich wachen könne? Das wurde nicht bedacht. Das Schreyende dieser Ungereimtheiten hätte die wahre Psy- chologie aus dem Schooſse der Geschichte hervorrufen müssen, wären die Köpfe nicht voll von Vorurtheilen ge- wesen. Fand sich bey verschiedenen gebildeten Völkern ein ganz verschiedener Stempel der Phantasie, der Sit- ten und der Gesetzgebung? Man suchte dies, wie billig, aus den Lebensumständen und den Schicksalen der Na- tionen zu erklären. Aber dennoch war in der Psycho- logie immer nur die Rede von einerley Einbildungs- und Urtheilskraft, in der Meinung, daſs diese Dinge in der ganzen Welt und zu allen Zeiten die nämlichen, an- geborenen Vermögen wären. — Was Wunder, wenn mit einer solchen Psychologie die Politik nichts anfangen konnte? Aus der Psychologie erklärte sich ja gar nichts,

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 530. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/565>, abgerufen am 24.11.2024.