Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

Bild:
<< vorherige Seite

selben als ein nutzbares Eigenthum betrachtet; und hie-
gegen haben sie kein Mittel, als den Versuch, zu ent-
fliehen, ohne zu wissen, wohin. So entsteht das Ver-
hältniss der Freyen und Unfreyen.

4) Vermöge eines psychologischen Grundes entsteht
unter denen, welche die Gemeinde bilden, eine neue Ab-
theilung. Die Mitglieder derselben beobachten einander;
das heisst, jeder erzeugt in sich die Vorstellungen
aller Andern. Gesetzt, diese Vorstellungen seyen ihrer
Stärke nach ursprünglich in demselben Verhältnisse, wie
die, nach der Hemmung noch frey gebliebene,
und daher noch sichtbare
, Kraft der vorgestellten
Personen: so beginnt nunmehr in dem Geiste eines je-
den Beobachters eine neue Hemmung unter diesen Vor-
stellungen. Auch hier ereignet es sich abermals, dass
die Reste der Vorstellungen bey weitem ungleicher aus-
fallen, als die Vorstellungen ursprünglich waren; und dass
Viele unter die Schwelle des Bewusstseyns fallen, neben
wenigen Hervorragenden. So scheiden sich diese We-
nigen, die Angesehenen, von denen, die nicht beach-
tet werden, den Gemeinen.

5) Da jedoch die Kräfte nicht wirklich so un-
gleich sind als sie scheinen: so fühlt Jeder für seine
Person, dass er mehr ist, als er gilt. Hingegen täuscht
er sich über die, welche ihm gleich sind, er hält sie
für schwächer, als er sich fühlt. Daher verschmilzt,
in seinem Bewusstseyn, sein Selbstgefühl viel näher, als
es der Wahrheit nach sollte, mit der Vorstellung Des-
sen, der in der Gemeine das höchste Ansehn hat. Für
diesen Angesehensten nun, dem Alle sich nähern, ent-
steht hieraus ein neuer Vortheil; sie richten sich nach
seinen Bewegungen; er ist Fürst, selbst noch ehe er es
wollte. Mit ihm sind Alle mehr verschmolzen, als unter
einander; sie hängen an ihm; er findet sie lenksam.
Das ist die älteste, die natürliche Monarchie; keine ab-
solute, denn die Lenksamkeit hat ihren bestimmten Grad,
und sie kann sehr leicht durch Unbehutsamkeit verdor-

selben als ein nutzbares Eigenthum betrachtet; und hie-
gegen haben sie kein Mittel, als den Versuch, zu ent-
fliehen, ohne zu wissen, wohin. So entsteht das Ver-
hältniſs der Freyen und Unfreyen.

4) Vermöge eines psychologischen Grundes entsteht
unter denen, welche die Gemeinde bilden, eine neue Ab-
theilung. Die Mitglieder derselben beobachten einander;
das heiſst, jeder erzeugt in sich die Vorstellungen
aller Andern. Gesetzt, diese Vorstellungen seyen ihrer
Stärke nach ursprünglich in demselben Verhältnisse, wie
die, nach der Hemmung noch frey gebliebene,
und daher noch sichtbare
, Kraft der vorgestellten
Personen: so beginnt nunmehr in dem Geiste eines je-
den Beobachters eine neue Hemmung unter diesen Vor-
stellungen. Auch hier ereignet es sich abermals, daſs
die Reste der Vorstellungen bey weitem ungleicher aus-
fallen, als die Vorstellungen ursprünglich waren; und daſs
Viele unter die Schwelle des Bewuſstseyns fallen, neben
wenigen Hervorragenden. So scheiden sich diese We-
nigen, die Angesehenen, von denen, die nicht beach-
tet werden, den Gemeinen.

5) Da jedoch die Kräfte nicht wirklich so un-
gleich sind als sie scheinen: so fühlt Jeder für seine
Person, daſs er mehr ist, als er gilt. Hingegen täuscht
er sich über die, welche ihm gleich sind, er hält sie
für schwächer, als er sich fühlt. Daher verschmilzt,
in seinem Bewuſstseyn, sein Selbstgefühl viel näher, als
es der Wahrheit nach sollte, mit der Vorstellung Des-
sen, der in der Gemeine das höchste Ansehn hat. Für
diesen Angesehensten nun, dem Alle sich nähern, ent-
steht hieraus ein neuer Vortheil; sie richten sich nach
seinen Bewegungen; er ist Fürst, selbst noch ehe er es
wollte. Mit ihm sind Alle mehr verschmolzen, als unter
einander; sie hängen an ihm; er findet sie lenksam.
Das ist die älteste, die natürliche Monarchie; keine ab-
solute, denn die Lenksamkeit hat ihren bestimmten Grad,
und sie kann sehr leicht durch Unbehutsamkeit verdor-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0055" n="20"/>
selben als ein nutzbares Eigenthum betrachtet; und hie-<lb/>
gegen haben sie kein Mittel, als den Versuch, zu ent-<lb/>
fliehen, ohne zu wissen, wohin. So entsteht das Ver-<lb/>
hältni&#x017F;s der <hi rendition="#g">Freyen</hi> und <hi rendition="#g">Unfreyen</hi>.</p><lb/>
          <p>4) Vermöge eines psychologischen Grundes entsteht<lb/>
unter denen, welche die Gemeinde bilden, eine neue Ab-<lb/>
theilung. Die Mitglieder derselben beobachten einander;<lb/>
das hei&#x017F;st, jeder erzeugt in sich die <hi rendition="#g">Vorstellungen</hi><lb/>
aller Andern. Gesetzt, diese Vorstellungen seyen ihrer<lb/>
Stärke nach ursprünglich in demselben Verhältnisse, wie<lb/>
die, <hi rendition="#g">nach der Hemmung noch frey gebliebene,<lb/>
und daher noch sichtbare</hi>, Kraft der vorgestellten<lb/>
Personen: so beginnt nunmehr in dem Geiste eines je-<lb/>
den Beobachters eine <hi rendition="#g">neue</hi> Hemmung unter diesen Vor-<lb/>
stellungen. Auch hier ereignet es sich abermals, da&#x017F;s<lb/>
die Reste der Vorstellungen bey weitem ungleicher aus-<lb/>
fallen, als die Vorstellungen ursprünglich waren; und da&#x017F;s<lb/>
Viele unter die Schwelle des Bewu&#x017F;stseyns fallen, neben<lb/>
wenigen Hervorragenden. So scheiden sich diese We-<lb/>
nigen, die <hi rendition="#g">Angesehenen</hi>, von denen, die nicht beach-<lb/>
tet werden, den <hi rendition="#g">Gemeinen</hi>.</p><lb/>
          <p>5) Da jedoch die Kräfte nicht wirklich so un-<lb/>
gleich sind als sie scheinen: so fühlt Jeder für seine<lb/>
Person, da&#x017F;s er mehr ist, als er gilt. Hingegen täuscht<lb/>
er sich über die, welche ihm gleich sind, er <hi rendition="#g">hält sie</hi><lb/>
für schwächer, als er <hi rendition="#g">sich fühlt</hi>. Daher verschmilzt,<lb/>
in seinem Bewu&#x017F;stseyn, sein Selbstgefühl viel näher, als<lb/>
es der Wahrheit nach sollte, mit der Vorstellung Des-<lb/>
sen, der in der Gemeine das höchste Ansehn hat. Für<lb/>
diesen Angesehensten nun, dem Alle sich nähern, ent-<lb/>
steht hieraus ein neuer Vortheil; sie richten sich nach<lb/>
seinen Bewegungen; er ist <hi rendition="#g">Fürst</hi>, selbst noch ehe er es<lb/>
wollte. Mit ihm sind Alle mehr verschmolzen, als unter<lb/>
einander; sie hängen an ihm; er findet sie lenksam.<lb/>
Das ist die älteste, die natürliche Monarchie; keine ab-<lb/>
solute, denn die Lenksamkeit hat ihren bestimmten Grad,<lb/>
und sie kann sehr leicht durch Unbehutsamkeit verdor-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[20/0055] selben als ein nutzbares Eigenthum betrachtet; und hie- gegen haben sie kein Mittel, als den Versuch, zu ent- fliehen, ohne zu wissen, wohin. So entsteht das Ver- hältniſs der Freyen und Unfreyen. 4) Vermöge eines psychologischen Grundes entsteht unter denen, welche die Gemeinde bilden, eine neue Ab- theilung. Die Mitglieder derselben beobachten einander; das heiſst, jeder erzeugt in sich die Vorstellungen aller Andern. Gesetzt, diese Vorstellungen seyen ihrer Stärke nach ursprünglich in demselben Verhältnisse, wie die, nach der Hemmung noch frey gebliebene, und daher noch sichtbare, Kraft der vorgestellten Personen: so beginnt nunmehr in dem Geiste eines je- den Beobachters eine neue Hemmung unter diesen Vor- stellungen. Auch hier ereignet es sich abermals, daſs die Reste der Vorstellungen bey weitem ungleicher aus- fallen, als die Vorstellungen ursprünglich waren; und daſs Viele unter die Schwelle des Bewuſstseyns fallen, neben wenigen Hervorragenden. So scheiden sich diese We- nigen, die Angesehenen, von denen, die nicht beach- tet werden, den Gemeinen. 5) Da jedoch die Kräfte nicht wirklich so un- gleich sind als sie scheinen: so fühlt Jeder für seine Person, daſs er mehr ist, als er gilt. Hingegen täuscht er sich über die, welche ihm gleich sind, er hält sie für schwächer, als er sich fühlt. Daher verschmilzt, in seinem Bewuſstseyn, sein Selbstgefühl viel näher, als es der Wahrheit nach sollte, mit der Vorstellung Des- sen, der in der Gemeine das höchste Ansehn hat. Für diesen Angesehensten nun, dem Alle sich nähern, ent- steht hieraus ein neuer Vortheil; sie richten sich nach seinen Bewegungen; er ist Fürst, selbst noch ehe er es wollte. Mit ihm sind Alle mehr verschmolzen, als unter einander; sie hängen an ihm; er findet sie lenksam. Das ist die älteste, die natürliche Monarchie; keine ab- solute, denn die Lenksamkeit hat ihren bestimmten Grad, und sie kann sehr leicht durch Unbehutsamkeit verdor-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/55
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/55>, abgerufen am 22.11.2024.