Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

Bild:
<< vorherige Seite

nung gesetzt haben. Allein es bleibe die Frage übrig,
wie überall eine Umtauschung der Persönlichkeit denkbar
sey, wie Jemand ein anderes Ich, als das seinige, haben
könne?

In der That, die Betrachtung dieses Punctes ist
noch vorbehalten. Sie bezieht sich nämlich nicht auf das
Eigenthümliche jener Geschichte, sondern auf alle die
so sehr gewöhnlichen Fälle des Wahnsinns, wo der
Mensch sich für einen Andern hält, als der Er ist. Und
wir gehen hiemit über zu demjenigen, was über den
Wahnsinn in der Kürze noch zu sagen ist, um die An-
wendbarkeit unsrer Principien auch auf diesen Gegenstand
zu zeigen.

Zuerst wolle man sich aus den obigen Untersuchun-
gen erinnern, dass die Ichheit, wie sie bey allen sich
selbst vorstellenden Wesen vorkommt, gar keine be-
stimmte Individualität erfordert, sondern nur irgend eine,
welche übrigens in ihren nähern Bestimmungen vom Zu-
fall abhängt, der ihre mannigfaltigen Bestandtheile zu-
sammenhäuft. Man wolle sich aus der Erfahrung erin-
nern, wie die Ichheit sich bey einem und demselben
Menschen von seiner Kindheit bis zu seinem Alter gleich-
sam fortschiebt auf den verschiedenen und heterogenen
Gefühlen, Wünschen, Thaten, Gedanken, äusseren Ver-
hältnissen, die er im Laufe der Zeit allmählig zu seinem
Selbst hinzurechnet. Man wolle bemerken, wie vielfach
verschieden der Mensch sogar im Laufe einer Stunde
seine Person ansieht, indem er sich bald als Geschäffts-
mann, bald als Familienglied, bald vielleicht als körperlich
leidend, u. s. w. auffasst; oder indem aus der ganzen höchst
zusammengesetzten, und nicht durchgehends vest verbun-
denen Complexion, die das individuelle Ich ausmacht,
bald dies bald jenes mehr im Bewusstseyn sich hervor-
hebt. Jede etwas beträchtliche Vorstellungsmasse enthält
ohne Zweifel irgend eine Auffassung der eignen Person;
und die Vorstellung Ich kommt im Menschen so viele-
mal zu Stande, dass er nothwendig eine vielfältige Per-

nung gesetzt haben. Allein es bleibe die Frage übrig,
wie überall eine Umtauschung der Persönlichkeit denkbar
sey, wie Jemand ein anderes Ich, als das seinige, haben
könne?

In der That, die Betrachtung dieses Punctes ist
noch vorbehalten. Sie bezieht sich nämlich nicht auf das
Eigenthümliche jener Geschichte, sondern auf alle die
so sehr gewöhnlichen Fälle des Wahnsinns, wo der
Mensch sich für einen Andern hält, als der Er ist. Und
wir gehen hiemit über zu demjenigen, was über den
Wahnsinn in der Kürze noch zu sagen ist, um die An-
wendbarkeit unsrer Principien auch auf diesen Gegenstand
zu zeigen.

Zuerst wolle man sich aus den obigen Untersuchun-
gen erinnern, daſs die Ichheit, wie sie bey allen sich
selbst vorstellenden Wesen vorkommt, gar keine be-
stimmte Individualität erfordert, sondern nur irgend eine,
welche übrigens in ihren nähern Bestimmungen vom Zu-
fall abhängt, der ihre mannigfaltigen Bestandtheile zu-
sammenhäuft. Man wolle sich aus der Erfahrung erin-
nern, wie die Ichheit sich bey einem und demselben
Menschen von seiner Kindheit bis zu seinem Alter gleich-
sam fortschiebt auf den verschiedenen und heterogenen
Gefühlen, Wünschen, Thaten, Gedanken, äuſseren Ver-
hältnissen, die er im Laufe der Zeit allmählig zu seinem
Selbst hinzurechnet. Man wolle bemerken, wie vielfach
verschieden der Mensch sogar im Laufe einer Stunde
seine Person ansieht, indem er sich bald als Geschäffts-
mann, bald als Familienglied, bald vielleicht als körperlich
leidend, u. s. w. auffaſst; oder indem aus der ganzen höchst
zusammengesetzten, und nicht durchgehends vest verbun-
denen Complexion, die das individuelle Ich ausmacht,
bald dies bald jenes mehr im Bewuſstseyn sich hervor-
hebt. Jede etwas beträchtliche Vorstellungsmasse enthält
ohne Zweifel irgend eine Auffassung der eignen Person;
und die Vorstellung Ich kommt im Menschen so viele-
mal zu Stande, daſs er nothwendig eine vielfältige Per-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0546" n="511"/>
nung gesetzt haben. Allein es bleibe die Frage übrig,<lb/>
wie überall eine Umtauschung der Persönlichkeit denkbar<lb/>
sey, wie Jemand ein anderes Ich, als das seinige, haben<lb/>
könne?</p><lb/>
              <p>In der That, die Betrachtung dieses Punctes ist<lb/>
noch vorbehalten. Sie bezieht sich nämlich nicht auf das<lb/>
Eigenthümliche jener Geschichte, sondern auf alle die<lb/>
so sehr gewöhnlichen Fälle des Wahnsinns, wo der<lb/>
Mensch sich für einen Andern hält, als der Er ist. Und<lb/>
wir gehen hiemit über zu demjenigen, was über den<lb/>
Wahnsinn in der Kürze noch zu sagen ist, um die An-<lb/>
wendbarkeit unsrer Principien auch auf diesen Gegenstand<lb/>
zu zeigen.</p><lb/>
              <p>Zuerst wolle man sich aus den obigen Untersuchun-<lb/>
gen erinnern, da&#x017F;s die Ichheit, wie sie bey allen sich<lb/>
selbst vorstellenden Wesen vorkommt, gar keine be-<lb/>
stimmte Individualität erfordert, sondern nur irgend eine,<lb/>
welche übrigens in ihren nähern Bestimmungen vom Zu-<lb/>
fall abhängt, der ihre mannigfaltigen Bestandtheile zu-<lb/>
sammenhäuft. Man wolle sich aus der Erfahrung erin-<lb/>
nern, wie die Ichheit sich bey einem und demselben<lb/>
Menschen von seiner Kindheit bis zu seinem Alter gleich-<lb/>
sam fortschiebt auf den verschiedenen und heterogenen<lb/>
Gefühlen, Wünschen, Thaten, Gedanken, äu&#x017F;seren Ver-<lb/>
hältnissen, die er im Laufe der Zeit allmählig zu seinem<lb/>
Selbst hinzurechnet. Man wolle bemerken, wie vielfach<lb/>
verschieden der Mensch sogar im Laufe einer Stunde<lb/>
seine Person ansieht, indem er sich bald als Geschäffts-<lb/>
mann, bald als Familienglied, bald vielleicht als körperlich<lb/>
leidend, u. s. w. auffa&#x017F;st; oder indem aus der ganzen höchst<lb/>
zusammengesetzten, und nicht durchgehends vest verbun-<lb/>
denen Complexion, die das individuelle Ich ausmacht,<lb/>
bald dies bald jenes mehr im Bewu&#x017F;stseyn sich hervor-<lb/>
hebt. Jede etwas beträchtliche Vorstellungsmasse enthält<lb/>
ohne Zweifel irgend eine Auffassung der eignen Person;<lb/>
und die Vorstellung Ich kommt im Menschen so viele-<lb/>
mal zu Stande, da&#x017F;s er nothwendig eine vielfältige Per-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[511/0546] nung gesetzt haben. Allein es bleibe die Frage übrig, wie überall eine Umtauschung der Persönlichkeit denkbar sey, wie Jemand ein anderes Ich, als das seinige, haben könne? In der That, die Betrachtung dieses Punctes ist noch vorbehalten. Sie bezieht sich nämlich nicht auf das Eigenthümliche jener Geschichte, sondern auf alle die so sehr gewöhnlichen Fälle des Wahnsinns, wo der Mensch sich für einen Andern hält, als der Er ist. Und wir gehen hiemit über zu demjenigen, was über den Wahnsinn in der Kürze noch zu sagen ist, um die An- wendbarkeit unsrer Principien auch auf diesen Gegenstand zu zeigen. Zuerst wolle man sich aus den obigen Untersuchun- gen erinnern, daſs die Ichheit, wie sie bey allen sich selbst vorstellenden Wesen vorkommt, gar keine be- stimmte Individualität erfordert, sondern nur irgend eine, welche übrigens in ihren nähern Bestimmungen vom Zu- fall abhängt, der ihre mannigfaltigen Bestandtheile zu- sammenhäuft. Man wolle sich aus der Erfahrung erin- nern, wie die Ichheit sich bey einem und demselben Menschen von seiner Kindheit bis zu seinem Alter gleich- sam fortschiebt auf den verschiedenen und heterogenen Gefühlen, Wünschen, Thaten, Gedanken, äuſseren Ver- hältnissen, die er im Laufe der Zeit allmählig zu seinem Selbst hinzurechnet. Man wolle bemerken, wie vielfach verschieden der Mensch sogar im Laufe einer Stunde seine Person ansieht, indem er sich bald als Geschäffts- mann, bald als Familienglied, bald vielleicht als körperlich leidend, u. s. w. auffaſst; oder indem aus der ganzen höchst zusammengesetzten, und nicht durchgehends vest verbun- denen Complexion, die das individuelle Ich ausmacht, bald dies bald jenes mehr im Bewuſstseyn sich hervor- hebt. Jede etwas beträchtliche Vorstellungsmasse enthält ohne Zweifel irgend eine Auffassung der eignen Person; und die Vorstellung Ich kommt im Menschen so viele- mal zu Stande, daſs er nothwendig eine vielfältige Per-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/546
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 511. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/546>, abgerufen am 25.11.2024.