eine Sache wissen, und doch nicht wissen, dass man sie weiss? Ja gar sich einbilden, man wisse sie nicht, und mit dieser Einbildung sich selbst kränken? Hier scheitert der Kantische Satz, das Ich denke müsse alle unsre Vorstellungen begleiten können. Hätte es gekonnt: warum denn begleitete es nicht wirklich jene Träume, in denen noch obendrein das eigne Ich, also das Selbstbewusst- seyn, eine bedeutende Rolle spielte? Man wird doch nicht antworten, der Act des Selbstbewusstseyns sey eine Aeusserung der Spontaneität eines reinen intellectuellen Vermögens? Der also erfolgen könne oder auch nicht, vollständig ausgeübt werde oder minder vollständig, ohne weitern Grund? Denn die Vertheidiger der Spontaneität, deren einige zwar Freyheit und Ichheit innig genug ver- knüpfen, pflegen der Meinung zu seyn, der Traum sey ohne Spontaneität, er könne nicht zugerechnet werden, er sey das Werk irgend eines blinden Mechanismus. Diesem Mechanismus werden sie denn wenigstens erlau- ben, dass es mit ihm gesetzmässig zugehe, dass er voll- bringe, was er aus zureichenden Gründen zugleich könne und müsse, und dass ein Mangel im Vollbringen bey ihm allemal einen Mangel des Könnens anzeige. Also konnten jene Träumenden sich nicht finden als die Wissenden dessen, was sie mit unfreywilliger Liberalität ihren Rivalen in den Mund legten. Beym Aufwachen hingegen ergänzte sich ihr Selbstbewusstseyn, ohne Zwei- fel eben so unfreywillig, und vielleicht mit einigem Ver- druss, und mit einer Art von Reue über die Plage, die sie sich angethan hatten, gleich als hätte es in ihrer Ge- walt gestanden sich zu besinnen, dass sie selbst es wa- ren, welche die Kosten des ganzen Spiels bestritten.
Vergleichen wir nun unsre obige Theorie des Selbst- bewusstseyns: so zeigt sich bald, dass diese Art von Träumen um nichts räthselhafter ist, als jede andre. Gleich zuerst wird uns einfallen, was sich von selbst ver- steht, dass irgend ein Act des Subjectiven im Ich, oder genauer, irgend eine appercipirende Vorstellungsmasse
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eine Sache wissen, und doch nicht wissen, daſs man sie weiſs? Ja gar sich einbilden, man wisse sie nicht, und mit dieser Einbildung sich selbst kränken? Hier scheitert der Kantische Satz, das Ich denke müsse alle unsre Vorstellungen begleiten können. Hätte es gekonnt: warum denn begleitete es nicht wirklich jene Träume, in denen noch obendrein das eigne Ich, also das Selbstbewuſst- seyn, eine bedeutende Rolle spielte? Man wird doch nicht antworten, der Act des Selbstbewuſstseyns sey eine Aeuſserung der Spontaneität eines reinen intellectuellen Vermögens? Der also erfolgen könne oder auch nicht, vollständig ausgeübt werde oder minder vollständig, ohne weitern Grund? Denn die Vertheidiger der Spontaneität, deren einige zwar Freyheit und Ichheit innig genug ver- knüpfen, pflegen der Meinung zu seyn, der Traum sey ohne Spontaneität, er könne nicht zugerechnet werden, er sey das Werk irgend eines blinden Mechanismus. Diesem Mechanismus werden sie denn wenigstens erlau- ben, daſs es mit ihm gesetzmäſsig zugehe, daſs er voll- bringe, was er aus zureichenden Gründen zugleich könne und müsse, und daſs ein Mangel im Vollbringen bey ihm allemal einen Mangel des Könnens anzeige. Also konnten jene Träumenden sich nicht finden als die Wissenden dessen, was sie mit unfreywilliger Liberalität ihren Rivalen in den Mund legten. Beym Aufwachen hingegen ergänzte sich ihr Selbstbewuſstseyn, ohne Zwei- fel eben so unfreywillig, und vielleicht mit einigem Ver- druſs, und mit einer Art von Reue über die Plage, die sie sich angethan hatten, gleich als hätte es in ihrer Ge- walt gestanden sich zu besinnen, daſs sie selbst es wa- ren, welche die Kosten des ganzen Spiels bestritten.
Vergleichen wir nun unsre obige Theorie des Selbst- bewuſstseyns: so zeigt sich bald, daſs diese Art von Träumen um nichts räthselhafter ist, als jede andre. Gleich zuerst wird uns einfallen, was sich von selbst ver- steht, daſs irgend ein Act des Subjectiven im Ich, oder genauer, irgend eine appercipirende Vorstellungsmasse
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eine Sache wissen, und doch nicht wissen, daſs man sie
weiſs? Ja gar sich einbilden, man wisse sie nicht, und
mit dieser Einbildung sich selbst kränken? Hier scheitert
der Kantische Satz, das Ich denke müsse alle unsre
Vorstellungen begleiten können. Hätte es gekonnt: warum
denn begleitete es nicht wirklich jene Träume, in denen
noch obendrein das eigne Ich, also das Selbstbewuſst-
seyn, eine bedeutende Rolle spielte? Man wird doch
nicht antworten, der Act des Selbstbewuſstseyns sey eine
Aeuſserung der Spontaneität eines reinen intellectuellen
Vermögens? Der also erfolgen könne oder auch nicht,
vollständig ausgeübt werde oder minder vollständig, ohne
weitern Grund? Denn die Vertheidiger der Spontaneität,
deren einige zwar Freyheit und Ichheit innig genug ver-
knüpfen, pflegen der Meinung zu seyn, der Traum sey
ohne Spontaneität, er könne nicht zugerechnet werden,
er sey das Werk irgend eines blinden Mechanismus.
Diesem Mechanismus werden sie denn wenigstens erlau-
ben, daſs es mit ihm gesetzmäſsig zugehe, daſs er voll-
bringe, was er aus zureichenden Gründen zugleich könne
und müsse, und daſs ein Mangel im Vollbringen bey
ihm allemal einen Mangel des Könnens anzeige. Also
konnten jene Träumenden sich nicht finden als die
Wissenden dessen, was sie mit unfreywilliger Liberalität
ihren Rivalen in den Mund legten. Beym Aufwachen
hingegen ergänzte sich ihr Selbstbewuſstseyn, ohne Zwei-
fel eben so unfreywillig, und vielleicht mit einigem Ver-
druſs, und mit einer Art von Reue über die Plage, die
sie sich angethan hatten, gleich als hätte es in ihrer Ge-
walt gestanden sich zu besinnen, daſs sie selbst es wa-
ren, welche die Kosten des ganzen Spiels bestritten.
Vergleichen wir nun unsre obige Theorie des Selbst-
bewuſstseyns: so zeigt sich bald, daſs diese Art von
Träumen um nichts räthselhafter ist, als jede andre.
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steht, daſs irgend ein Act des Subjectiven im Ich, oder
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 499. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/534>, abgerufen am 25.11.2024.
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