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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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kommen, das Uebergewicht über dem Gehirne haben?
Hier finden wir Kunsttriebe; einen vorgeschriebenen Wech-
sel der Lebensart; der Gang der Vorstellungen scheint
unaufhörlich durch organische Gefühle bestimmt, deren
Sitz ohne Zweifel in der Gesammtheit aller Elemente des
Nervensystems muss gesucht werden. Und das nämliche
ist wahrscheinlich das Loos der allermeisten Thiere, nur
die obersten Säugethiere ausgenommen. Ob der Lauf
der Vorstellungen mehr einem psychologischen, oder
einem physiologischen Gesetze folgt: dies scheint die
grosse Frage, wornach entschieden werden muss, wiefern
ein beseelter Organismus zum Träger eines vernünftigen
Daseyns tauge. Den niedrigsten Geschöpfen kann man
geradezu mehrere Seelen beylegen, wenn anders der Name
Seele noch anwendbar ist auf solche einfache Wesen,
deren Selbsterhaltungen vielleicht mit unsern Vorstellun-
gen keine Aehnlichkeit mehr haben. Wenigstens hat
man im geringsten nicht Ursache, sich über die Theil-
barkeit der Regenwürmer und Polypen in mehrere fort-
lebende Ganze, den Kopf zu zerbrechen; nur eine zu
weit getriebene Analogie unter den verschiedenartigsten
lebenden Wesen, könnte hier, so wie anderwärts, Schwie-
rigkeiten machen. Gewiss braucht man nicht anzuneh-
men, dass die Seele, oder was immer im Nervensy-
stem das herrschende seyn mag, in allen Thieren ein
gleich parasitisches Daseyn habe, wie im Menschen; im
Gegentheil, das monarchische Verhältniss jener Herrschaft
senkt sich allem Anschein nach gar sehr ins demokrati-
sche hinunter; und die niedrigsten Seelen mögen immer-
hin auch die niedrigsten Dienste, deren die Vegetation
bedarf, mit besorgen helfen.

Hinwiederum ist kein Zweifel, dass die menschliche
Seele sich ihre schöne und wohlgelegene Wohnung noch
bequemer mache; dass im Gehirne eine Menge von in-
nern und vielleicht selbst äusseren Zuständen, durch die
Seele verursacht werden. Es ist kein Zweifel, dass unter
den menschlichen Gehirnen Verschiedenheiten, theils der

kommen, das Uebergewicht über dem Gehirne haben?
Hier finden wir Kunsttriebe; einen vorgeschriebenen Wech-
sel der Lebensart; der Gang der Vorstellungen scheint
unaufhörlich durch organische Gefühle bestimmt, deren
Sitz ohne Zweifel in der Gesammtheit aller Elemente des
Nervensystems muſs gesucht werden. Und das nämliche
ist wahrscheinlich das Loos der allermeisten Thiere, nur
die obersten Säugethiere ausgenommen. Ob der Lauf
der Vorstellungen mehr einem psychologischen, oder
einem physiologischen Gesetze folgt: dies scheint die
groſse Frage, wornach entschieden werden muſs, wiefern
ein beseelter Organismus zum Träger eines vernünftigen
Daseyns tauge. Den niedrigsten Geschöpfen kann man
geradezu mehrere Seelen beylegen, wenn anders der Name
Seele noch anwendbar ist auf solche einfache Wesen,
deren Selbsterhaltungen vielleicht mit unsern Vorstellun-
gen keine Aehnlichkeit mehr haben. Wenigstens hat
man im geringsten nicht Ursache, sich über die Theil-
barkeit der Regenwürmer und Polypen in mehrere fort-
lebende Ganze, den Kopf zu zerbrechen; nur eine zu
weit getriebene Analogie unter den verschiedenartigsten
lebenden Wesen, könnte hier, so wie anderwärts, Schwie-
rigkeiten machen. Gewiſs braucht man nicht anzuneh-
men, daſs die Seele, oder was immer im Nervensy-
stem das herrschende seyn mag, in allen Thieren ein
gleich parasitisches Daseyn habe, wie im Menschen; im
Gegentheil, das monarchische Verhältniſs jener Herrschaft
senkt sich allem Anschein nach gar sehr ins demokrati-
sche hinunter; und die niedrigsten Seelen mögen immer-
hin auch die niedrigsten Dienste, deren die Vegetation
bedarf, mit besorgen helfen.

Hinwiederum ist kein Zweifel, daſs die menschliche
Seele sich ihre schöne und wohlgelegene Wohnung noch
bequemer mache; daſs im Gehirne eine Menge von in-
nern und vielleicht selbst äuſseren Zuständen, durch die
Seele verursacht werden. Es ist kein Zweifel, daſs unter
den menschlichen Gehirnen Verschiedenheiten, theils der

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[486/0521] kommen, das Uebergewicht über dem Gehirne haben? Hier finden wir Kunsttriebe; einen vorgeschriebenen Wech- sel der Lebensart; der Gang der Vorstellungen scheint unaufhörlich durch organische Gefühle bestimmt, deren Sitz ohne Zweifel in der Gesammtheit aller Elemente des Nervensystems muſs gesucht werden. Und das nämliche ist wahrscheinlich das Loos der allermeisten Thiere, nur die obersten Säugethiere ausgenommen. Ob der Lauf der Vorstellungen mehr einem psychologischen, oder einem physiologischen Gesetze folgt: dies scheint die groſse Frage, wornach entschieden werden muſs, wiefern ein beseelter Organismus zum Träger eines vernünftigen Daseyns tauge. Den niedrigsten Geschöpfen kann man geradezu mehrere Seelen beylegen, wenn anders der Name Seele noch anwendbar ist auf solche einfache Wesen, deren Selbsterhaltungen vielleicht mit unsern Vorstellun- gen keine Aehnlichkeit mehr haben. Wenigstens hat man im geringsten nicht Ursache, sich über die Theil- barkeit der Regenwürmer und Polypen in mehrere fort- lebende Ganze, den Kopf zu zerbrechen; nur eine zu weit getriebene Analogie unter den verschiedenartigsten lebenden Wesen, könnte hier, so wie anderwärts, Schwie- rigkeiten machen. Gewiſs braucht man nicht anzuneh- men, daſs die Seele, oder was immer im Nervensy- stem das herrschende seyn mag, in allen Thieren ein gleich parasitisches Daseyn habe, wie im Menschen; im Gegentheil, das monarchische Verhältniſs jener Herrschaft senkt sich allem Anschein nach gar sehr ins demokrati- sche hinunter; und die niedrigsten Seelen mögen immer- hin auch die niedrigsten Dienste, deren die Vegetation bedarf, mit besorgen helfen. Hinwiederum ist kein Zweifel, daſs die menschliche Seele sich ihre schöne und wohlgelegene Wohnung noch bequemer mache; daſs im Gehirne eine Menge von in- nern und vielleicht selbst äuſseren Zuständen, durch die Seele verursacht werden. Es ist kein Zweifel, daſs unter den menschlichen Gehirnen Verschiedenheiten, theils der

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 486. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/521>, abgerufen am 22.11.2024.