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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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äusseren Zustande, zu welchem seine Cultur sich schickt,
erst ganz herausreissen, in einen ganz entgegengesetzten
ihn hineinzwingen, und ihn nicht zur Besinnung kommen
lassen. Denn sobald alle in ihm vorhandenen Vorstel-
lungsmassen sich ins volle Gleichgewicht setzen, wird
doch die bessere Erziehung wieder durchschimmern, und
in den ärgsten Lumpen wird ein edler Anstand sichtbar
werden. -- So gerade mag auch ein vormals organisches
Element nach Auflösung der Lebens-Bande, nach der
Verwesung, sich einigermaassen (doch niemals ganz) in
den rohen Chemismus zürückversetzt finden: gewiss
aber darf man während des noch kräftigen Lebens kei-
nen solchen Verfall erwarten; sondern hier ist, (um
nur zum Schluss zu kommen) die chemische Erklärungs-
art fast ganz untauglich, weil ihre Stelle allemal von der,
ihr nicht sowohl entgegengesetzten, als vielmehr sie über-
treffenden, vitalen, wird ausgefüllt werden.

Endlich die psychische Erklärungsart, wie hängt sie
mit den vorigen zusammen? Sie setzt voraus, dass nicht
bloss, wie in der Pflanze, eine Menge von zusammen-
geordneten, und zum gemeinsamen Leben gebildeten
Elementen, dieses Leben mit einander wirklich führen,
und in demselben einander gegenseitig bestimmen: son-
dern dass noch etwas Ueberschüssiges, zur organi-
schen Existenz nicht schlechthin nothwendiges, aber in
einem ganz ausgezeichneten Grade und auf ganz beson-
dere Weise Gebildetes, zugegen sey, welches in das
ganze System des lebenden Körpers aufs tiefste verfloch-
ten, dasselbe vielfältig modificire, und von ihm Modifi-
cationen empfange. Die Seele ist nicht einmal bey den
niedrigsten Thieren das, wofür ein Alter sie zu halten
schien, indem er sich scherzend so ausdrückte, sie sey
dem Thiere gegeben statt des Salzes, damit es nicht faule.
Viel eher kann man mit Reil sagen: "die Seele ist
"der natürliche Parasit des Körpers,
und ver-
"zehrt in dem nämlichen Verhältniss das Oehl des Le-
"bens stärker, welches sie nicht erworben hat, als die

äuſseren Zustande, zu welchem seine Cultur sich schickt,
erst ganz herausreiſsen, in einen ganz entgegengesetzten
ihn hineinzwingen, und ihn nicht zur Besinnung kommen
lassen. Denn sobald alle in ihm vorhandenen Vorstel-
lungsmassen sich ins volle Gleichgewicht setzen, wird
doch die bessere Erziehung wieder durchschimmern, und
in den ärgsten Lumpen wird ein edler Anstand sichtbar
werden. — So gerade mag auch ein vormals organisches
Element nach Auflösung der Lebens-Bande, nach der
Verwesung, sich einigermaaſsen (doch niemals ganz) in
den rohen Chemismus zürückversetzt finden: gewiſs
aber darf man während des noch kräftigen Lebens kei-
nen solchen Verfall erwarten; sondern hier ist, (um
nur zum Schluſs zu kommen) die chemische Erklärungs-
art fast ganz untauglich, weil ihre Stelle allemal von der,
ihr nicht sowohl entgegengesetzten, als vielmehr sie über-
treffenden, vitalen, wird ausgefüllt werden.

Endlich die psychische Erklärungsart, wie hängt sie
mit den vorigen zusammen? Sie setzt voraus, daſs nicht
bloſs, wie in der Pflanze, eine Menge von zusammen-
geordneten, und zum gemeinsamen Leben gebildeten
Elementen, dieses Leben mit einander wirklich führen,
und in demselben einander gegenseitig bestimmen: son-
dern daſs noch etwas Ueberschüssiges, zur organi-
schen Existenz nicht schlechthin nothwendiges, aber in
einem ganz ausgezeichneten Grade und auf ganz beson-
dere Weise Gebildetes, zugegen sey, welches in das
ganze System des lebenden Körpers aufs tiefste verfloch-
ten, dasselbe vielfältig modificire, und von ihm Modifi-
cationen empfange. Die Seele ist nicht einmal bey den
niedrigsten Thieren das, wofür ein Alter sie zu halten
schien, indem er sich scherzend so ausdrückte, sie sey
dem Thiere gegeben statt des Salzes, damit es nicht faule.
Viel eher kann man mit Reil sagen: „die Seele ist
„der natürliche Parasit des Körpers,
und ver-
„zehrt in dem nämlichen Verhältniſs das Oehl des Le-
„bens stärker, welches sie nicht erworben hat, als die

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[470/0505] äuſseren Zustande, zu welchem seine Cultur sich schickt, erst ganz herausreiſsen, in einen ganz entgegengesetzten ihn hineinzwingen, und ihn nicht zur Besinnung kommen lassen. Denn sobald alle in ihm vorhandenen Vorstel- lungsmassen sich ins volle Gleichgewicht setzen, wird doch die bessere Erziehung wieder durchschimmern, und in den ärgsten Lumpen wird ein edler Anstand sichtbar werden. — So gerade mag auch ein vormals organisches Element nach Auflösung der Lebens-Bande, nach der Verwesung, sich einigermaaſsen (doch niemals ganz) in den rohen Chemismus zürückversetzt finden: gewiſs aber darf man während des noch kräftigen Lebens kei- nen solchen Verfall erwarten; sondern hier ist, (um nur zum Schluſs zu kommen) die chemische Erklärungs- art fast ganz untauglich, weil ihre Stelle allemal von der, ihr nicht sowohl entgegengesetzten, als vielmehr sie über- treffenden, vitalen, wird ausgefüllt werden. Endlich die psychische Erklärungsart, wie hängt sie mit den vorigen zusammen? Sie setzt voraus, daſs nicht bloſs, wie in der Pflanze, eine Menge von zusammen- geordneten, und zum gemeinsamen Leben gebildeten Elementen, dieses Leben mit einander wirklich führen, und in demselben einander gegenseitig bestimmen: son- dern daſs noch etwas Ueberschüssiges, zur organi- schen Existenz nicht schlechthin nothwendiges, aber in einem ganz ausgezeichneten Grade und auf ganz beson- dere Weise Gebildetes, zugegen sey, welches in das ganze System des lebenden Körpers aufs tiefste verfloch- ten, dasselbe vielfältig modificire, und von ihm Modifi- cationen empfange. Die Seele ist nicht einmal bey den niedrigsten Thieren das, wofür ein Alter sie zu halten schien, indem er sich scherzend so ausdrückte, sie sey dem Thiere gegeben statt des Salzes, damit es nicht faule. Viel eher kann man mit Reil sagen: „die Seele ist „der natürliche Parasit des Körpers, und ver- „zehrt in dem nämlichen Verhältniſs das Oehl des Le- „bens stärker, welches sie nicht erworben hat, als die

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 470. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/505>, abgerufen am 25.11.2024.