Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

Bild:
<< vorherige Seite

Hoffnung, man werde mir meinen Geschmack lassen,
im Stillen den Walter Scott oder wie jener Unbe-
kannte heissen mag, dessen tragische Muse des Kothurns
nicht bedarf, weil sie im einfachen Hauskleide des Ro-
mans noch gross genug ist; -- ich lese ihn, ohne auf
die übliche Mäkeley an den Ungleichheiten seines uner-
messlichen Reichthums zu hören, die Niemanden wundern
darf, denn er ist den Alterthümlern zu neu, den Lüst-
lingen zu kalt, und den Romantikern viel zu klug. --
Doch da ich des Ariost erwähnte, kann ich an dem,
für die Psychologie so höchst merkwürdigen Wendepuncte
seines grossen Gedichts nicht ganz rücksichtlos vorüber-
gehn! Bekanntlich hat sich Ariost einen Helden ge-
wählt, der rasend ist; völlig rasend toll; so dass von
dem erschütternden Shakespearschen Wahnwitz nicht die
Rede seyn kann, vielmehr die todte Stute, die er mit
sich schleppt, die Wahrheit der Vergleichung mit Ne-
bukadnezarn erhärten muss, von dem der Dichter singt:

Er musste toll, auf sieben Jahre, werden,
Und fressen, wie ein Ochs, das Gras der Erden.

Obgleich nun an einem solchen Rasenden nichts
mehr zu finden ist, das einen Werth haben, oder Theil-
nahme ansprechen könnte: so findet der Dichter dennoch
für gut, seine Heilung zu veranstalten, und zwar durch
keinen geringern Arzt, als den Apostel Johannes. Man
sollte meinen, ein so gleichgültiges Wunder könnte wohl
ohne lange Vorrede kurz abgethan werden; und überdies,
die Wunderkraft eines so erhabenen Heiligen genüge
sich selbst, um ein zerrüttetes Gehirn wieder zu ordnen.
Nein! eine Reise in den Mond ist dazu nöthig! Jetzt
aber erwartet man von dem unerschöpflichen Geiste des
Dichters viel Neues über den Mond zu hören. Nein!
Er schmückt den Mond wie eine Trödelbude mit den

unterscheide ich das Genie von der Richtung, die es genommen, und
von den Werken, die es hervorgebracht hat.

Hoffnung, man werde mir meinen Geschmack lassen,
im Stillen den Walter Scott oder wie jener Unbe-
kannte heiſsen mag, dessen tragische Muse des Kothurns
nicht bedarf, weil sie im einfachen Hauskleide des Ro-
mans noch groſs genug ist; — ich lese ihn, ohne auf
die übliche Mäkeley an den Ungleichheiten seines uner-
meſslichen Reichthums zu hören, die Niemanden wundern
darf, denn er ist den Alterthümlern zu neu, den Lüst-
lingen zu kalt, und den Romantikern viel zu klug. —
Doch da ich des Ariost erwähnte, kann ich an dem,
für die Psychologie so höchst merkwürdigen Wendepuncte
seines groſsen Gedichts nicht ganz rücksichtlos vorüber-
gehn! Bekanntlich hat sich Ariost einen Helden ge-
wählt, der rasend ist; völlig rasend toll; so daſs von
dem erschütternden Shakespearschen Wahnwitz nicht die
Rede seyn kann, vielmehr die todte Stute, die er mit
sich schleppt, die Wahrheit der Vergleichung mit Ne-
bukadnezarn erhärten muſs, von dem der Dichter singt:

Er muſste toll, auf sieben Jahre, werden,
Und fressen, wie ein Ochs, das Gras der Erden.

Obgleich nun an einem solchen Rasenden nichts
mehr zu finden ist, das einen Werth haben, oder Theil-
nahme ansprechen könnte: so findet der Dichter dennoch
für gut, seine Heilung zu veranstalten, und zwar durch
keinen geringern Arzt, als den Apostel Johannes. Man
sollte meinen, ein so gleichgültiges Wunder könnte wohl
ohne lange Vorrede kurz abgethan werden; und überdies,
die Wunderkraft eines so erhabenen Heiligen genüge
sich selbst, um ein zerrüttetes Gehirn wieder zu ordnen.
Nein! eine Reise in den Mond ist dazu nöthig! Jetzt
aber erwartet man von dem unerschöpflichen Geiste des
Dichters viel Neues über den Mond zu hören. Nein!
Er schmückt den Mond wie eine Trödelbude mit den

unterscheide ich das Genie von der Richtung, die es genommen, und
von den Werken, die es hervorgebracht hat.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0471" n="436"/>
Hoffnung, man werde mir meinen Geschmack lassen,<lb/>
im Stillen den <hi rendition="#g">Walter Scott</hi> oder wie jener Unbe-<lb/>
kannte hei&#x017F;sen mag, dessen tragische Muse des Kothurns<lb/>
nicht bedarf, weil sie im einfachen Hauskleide des Ro-<lb/>
mans noch gro&#x017F;s genug ist; &#x2014; ich lese ihn, ohne auf<lb/>
die übliche Mäkeley an den Ungleichheiten seines uner-<lb/>
me&#x017F;slichen Reichthums zu hören, die Niemanden wundern<lb/>
darf, denn er ist den Alterthümlern zu neu, den Lüst-<lb/>
lingen zu kalt, und den Romantikern viel zu klug. &#x2014;<lb/>
Doch da ich des <hi rendition="#g">Ariost</hi> erwähnte, kann ich an dem,<lb/>
für die Psychologie so höchst merkwürdigen Wendepuncte<lb/>
seines gro&#x017F;sen Gedichts nicht ganz rücksichtlos vorüber-<lb/>
gehn! Bekanntlich hat sich <hi rendition="#g">Ariost</hi> einen Helden ge-<lb/>
wählt, der <hi rendition="#g">rasend</hi> ist; völlig rasend toll; so da&#x017F;s von<lb/>
dem erschütternden Shakespearschen Wahnwitz nicht die<lb/>
Rede seyn kann, vielmehr die todte Stute, die er mit<lb/>
sich schleppt, die Wahrheit der Vergleichung mit Ne-<lb/>
bukadnezarn erhärten mu&#x017F;s, von dem der Dichter singt:</p><lb/>
              <lg type="poem">
                <l>Er mu&#x017F;ste toll, auf sieben Jahre, werden,</l><lb/>
                <l>Und fressen, wie ein Ochs, das Gras der Erden.</l>
              </lg><lb/>
              <p>Obgleich nun an einem solchen Rasenden nichts<lb/>
mehr zu finden ist, das einen Werth haben, oder Theil-<lb/>
nahme ansprechen könnte: so findet der Dichter dennoch<lb/>
für gut, seine Heilung zu veranstalten, und zwar durch<lb/>
keinen geringern Arzt, als den Apostel Johannes. Man<lb/>
sollte meinen, ein so gleichgültiges Wunder könnte wohl<lb/>
ohne lange Vorrede kurz abgethan werden; und überdies,<lb/>
die Wunderkraft eines so erhabenen Heiligen genüge<lb/>
sich selbst, um ein zerrüttetes Gehirn wieder zu ordnen.<lb/>
Nein! eine Reise in den Mond ist dazu nöthig! Jetzt<lb/>
aber erwartet man von dem unerschöpflichen Geiste des<lb/>
Dichters viel Neues über den Mond zu hören. Nein!<lb/>
Er schmückt den Mond wie eine Trödelbude mit den<lb/><note xml:id="seg2pn_8_2" prev="#seg2pn_8_1" place="foot" n="*)">unterscheide ich das Genie von der Richtung, die es genommen, und<lb/>
von den Werken, die es hervorgebracht hat.</note><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[436/0471] Hoffnung, man werde mir meinen Geschmack lassen, im Stillen den Walter Scott oder wie jener Unbe- kannte heiſsen mag, dessen tragische Muse des Kothurns nicht bedarf, weil sie im einfachen Hauskleide des Ro- mans noch groſs genug ist; — ich lese ihn, ohne auf die übliche Mäkeley an den Ungleichheiten seines uner- meſslichen Reichthums zu hören, die Niemanden wundern darf, denn er ist den Alterthümlern zu neu, den Lüst- lingen zu kalt, und den Romantikern viel zu klug. — Doch da ich des Ariost erwähnte, kann ich an dem, für die Psychologie so höchst merkwürdigen Wendepuncte seines groſsen Gedichts nicht ganz rücksichtlos vorüber- gehn! Bekanntlich hat sich Ariost einen Helden ge- wählt, der rasend ist; völlig rasend toll; so daſs von dem erschütternden Shakespearschen Wahnwitz nicht die Rede seyn kann, vielmehr die todte Stute, die er mit sich schleppt, die Wahrheit der Vergleichung mit Ne- bukadnezarn erhärten muſs, von dem der Dichter singt: Er muſste toll, auf sieben Jahre, werden, Und fressen, wie ein Ochs, das Gras der Erden. Obgleich nun an einem solchen Rasenden nichts mehr zu finden ist, das einen Werth haben, oder Theil- nahme ansprechen könnte: so findet der Dichter dennoch für gut, seine Heilung zu veranstalten, und zwar durch keinen geringern Arzt, als den Apostel Johannes. Man sollte meinen, ein so gleichgültiges Wunder könnte wohl ohne lange Vorrede kurz abgethan werden; und überdies, die Wunderkraft eines so erhabenen Heiligen genüge sich selbst, um ein zerrüttetes Gehirn wieder zu ordnen. Nein! eine Reise in den Mond ist dazu nöthig! Jetzt aber erwartet man von dem unerschöpflichen Geiste des Dichters viel Neues über den Mond zu hören. Nein! Er schmückt den Mond wie eine Trödelbude mit den *) *) unterscheide ich das Genie von der Richtung, die es genommen, und von den Werken, die es hervorgebracht hat.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/471
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/471>, abgerufen am 22.11.2024.