durch Uebung, durch Anstrengung vestgestellt zu wer- den; daher ist die Cultur nicht gleichgültig für das Mora- lische, vielmehr ist sehr gewiss, dass man wenigstens die Reife der Tugend nur bey dem Menschen suchen kann, dessen Blick sich ins Allgemeine ausbreitet, und nicht mehr von den ersten, niedrigsten Bedürfnissen eines küm- merlichen individuellen Daseyns verdüstert wird. Ueber- dies, wo kein feines Gefühl, da ist auch keine Tugend; da steht es schlecht auch um jene ersten Factoren der- selben, die zwar der Reflexion nicht das Daseyn, aber doch Schutz verdanken gegen eine Rohheit und Wild- heit, der sie sonst zu unterliegen pflegen. Und nun ver- gleiche man die Beschreibungen, die wir von rohen Völ- kern haben! Nun überlege man, wie die Erde damals aussehn konnte, als bloss einige wenige Puncte in Italien und Griechenland eine Cultur besassen, die noch durch Sklaven, und durch Geringschätzung des weiblichen Ge- schlechts verdunkelt wurde! Gerade die Geschichte, die von unserer Zeit ein beschämendes, aber von den frü- hern Zeiten eine Unzahl wahrhaft empörender Zeugnisse ablegt, beweis't den Fortschritt des Menschengeschlechts demjenigen, der von der Sittlichkeit nicht bloss einen klaren Begriff hat, (sondern ausführlich-deutlich, wie es nöthig ist, die Bestandtheile derselben und das Ganze vor Augen sieht. -- Auch ist die Ueberzeugung wenig- stens von der Möglichkeit des Fortschreitens nicht bloss eine gutmüthige Voraussetzung, die man haben und entbehren kann nach Belieben: sondern wenn von praktischen Postulaten die Rede ist, an die man glauben muss, um sittlich handeln zu können, so ist für das Le- ben gerade dieses Fortschreiten, und zwar in der Sitt- lichkeit nach ihrem allerstrengsten Begriffe, der wahre und eigentliche Glaubenspunct, welcher allein fähig ist, den Muth des Lebens und Wirkens zu halten und zu ernähren *).
*) Die nothwendige Verbindung dieses Puncts mit der Voraus-
durch Uebung, durch Anstrengung vestgestellt zu wer- den; daher ist die Cultur nicht gleichgültig für das Mora- lische, vielmehr ist sehr gewiſs, daſs man wenigstens die Reife der Tugend nur bey dem Menschen suchen kann, dessen Blick sich ins Allgemeine ausbreitet, und nicht mehr von den ersten, niedrigsten Bedürfnissen eines küm- merlichen individuellen Daseyns verdüstert wird. Ueber- dies, wo kein feines Gefühl, da ist auch keine Tugend; da steht es schlecht auch um jene ersten Factoren der- selben, die zwar der Reflexion nicht das Daseyn, aber doch Schutz verdanken gegen eine Rohheit und Wild- heit, der sie sonst zu unterliegen pflegen. Und nun ver- gleiche man die Beschreibungen, die wir von rohen Völ- kern haben! Nun überlege man, wie die Erde damals aussehn konnte, als bloſs einige wenige Puncte in Italien und Griechenland eine Cultur besaſsen, die noch durch Sklaven, und durch Geringschätzung des weiblichen Ge- schlechts verdunkelt wurde! Gerade die Geschichte, die von unserer Zeit ein beschämendes, aber von den frü- hern Zeiten eine Unzahl wahrhaft empörender Zeugnisse ablegt, beweis’t den Fortschritt des Menschengeschlechts demjenigen, der von der Sittlichkeit nicht bloſs einen klaren Begriff hat, (sondern ausführlich-deutlich, wie es nöthig ist, die Bestandtheile derselben und das Ganze vor Augen sieht. — Auch ist die Ueberzeugung wenig- stens von der Möglichkeit des Fortschreitens nicht bloſs eine gutmüthige Voraussetzung, die man haben und entbehren kann nach Belieben: sondern wenn von praktischen Postulaten die Rede ist, an die man glauben muſs, um sittlich handeln zu können, so ist für das Le- ben gerade dieses Fortschreiten, und zwar in der Sitt- lichkeit nach ihrem allerstrengsten Begriffe, der wahre und eigentliche Glaubenspunct, welcher allein fähig ist, den Muth des Lebens und Wirkens zu halten und zu ernähren *).
*) Die nothwendige Verbindung dieses Puncts mit der Voraus-
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Reife der Tugend nur bey dem Menschen suchen kann,
dessen Blick sich ins Allgemeine ausbreitet, und nicht
mehr von den ersten, niedrigsten Bedürfnissen eines küm-
merlichen individuellen Daseyns verdüstert wird. Ueber-
dies, wo kein feines Gefühl, da ist auch keine Tugend;
da steht es schlecht auch um jene ersten Factoren der-
selben, die zwar der Reflexion nicht das Daseyn, aber
doch Schutz verdanken gegen eine Rohheit und Wild-
heit, der sie sonst zu unterliegen pflegen. Und nun ver-
gleiche man die Beschreibungen, die wir von rohen Völ-
kern haben! Nun überlege man, wie die Erde damals
aussehn konnte, als bloſs einige wenige Puncte in Italien
und Griechenland eine Cultur besaſsen, die noch durch
Sklaven, und durch Geringschätzung des weiblichen Ge-
schlechts verdunkelt wurde! Gerade die Geschichte, die
von unserer Zeit ein beschämendes, aber von den frü-
hern Zeiten eine Unzahl wahrhaft empörender Zeugnisse
ablegt, beweis’t den Fortschritt des Menschengeschlechts
demjenigen, der von der Sittlichkeit nicht bloſs einen
klaren Begriff hat, (sondern ausführlich-deutlich, wie
es nöthig ist, die Bestandtheile derselben und das Ganze
vor Augen sieht. — Auch ist die Ueberzeugung wenig-
stens von der Möglichkeit des Fortschreitens nicht
bloſs eine gutmüthige Voraussetzung, die man haben
und entbehren kann nach Belieben: sondern wenn von
praktischen Postulaten die Rede ist, an die man glauben
muſs, um sittlich handeln zu können, so ist für das Le-
ben gerade dieses Fortschreiten, und zwar in der Sitt-
lichkeit nach ihrem allerstrengsten Begriffe,
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 430. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/465>, abgerufen am 25.11.2024.
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