Zustände des noch nicht reflectirenden Menschen, der an keine allgemeine Gesetzgebung denkt, sondern für sich, und für Wenige, die er liebt, oder als die Seinigen be- trachtet, lebt und sorgt, gar nicht die Sphäre erreichen können, worin nach dieser Ansicht die Sittlichkeit allein zu suchen wäre. Darum passt es für Niemanden weni- ger als für Kant, so spröde zu thun gegen die Civilisi- rung. Denn mit ihr Hand in Hand geht die Reflexion; und dem gemäss müsste man sagen, die Freyheit sey dort, wo noch der Gedanke einer allgemeinen Gesetzge- bung nicht aufkommen kann neben dem Cultus eigen- thümlicher National-Gottheiten, und neben einem eng- herzigen, spartanischen oder römischen Patriotismus, der kein politisches Leben ausser seinem engen Kreise dul- den will, -- überall nicht zur Erscheinung durchgebro- chen; sondern sie lasse ihr Licht nur in dem Maasse heller leuchten, wie die Menschen sich zur Ueberlegung dessen erheben, was mit dem Willen Aller bestehen könne. Man sieht nun leicht ein, (oder man kann es aus der praktischen Philosophie leicht erkennen) dass hieran aller- dings etwas Wahres ist. Die Sittlichkeit ist zwar nicht ganz ein Werk der Reflexion, sondern ein Theil von ihr liegt in natürlichen Gefühlen des Wohlwollens, die sich unmittelbar Niemand geben kann; ein andrer Theil ist ursprüngliche Kraft, die man im Menschen, so wie er aus Leib und Seele schon geschaffen dasteht, nur vorfinden und an dargebotenen Gegenständen über kann; wieder ein andrer Theil ist richtiges ästhetisches Urtheil, welches gar nicht vom Abstracten, sondern von einzelnen wirklichen Fällen anzuheben, und auf niedrigen Culturstufen sich zuweilen unerwartet, wie ein Blitz, je- doch auch eben so vorübergehend, zu zeigen pflegt; -- aber diese einzelnen Factoren der Tugend *) sind noch nicht die Tugend selbst; sie bedürfen noch, gesammelt, geläutert, gesichert, durch Maximen, durch Grundsätze,
*) Oder vollends einzelne heftige Aeusserungen derselben, die unter dem Namen tugendhafter Handlungen bewundert zu werden pflegen.
Zustände des noch nicht reflectirenden Menschen, der an keine allgemeine Gesetzgebung denkt, sondern für sich, und für Wenige, die er liebt, oder als die Seinigen be- trachtet, lebt und sorgt, gar nicht die Sphäre erreichen können, worin nach dieser Ansicht die Sittlichkeit allein zu suchen wäre. Darum paſst es für Niemanden weni- ger als für Kant, so spröde zu thun gegen die Civilisi- rung. Denn mit ihr Hand in Hand geht die Reflexion; und dem gemäſs müſste man sagen, die Freyheit sey dort, wo noch der Gedanke einer allgemeinen Gesetzge- bung nicht aufkommen kann neben dem Cultus eigen- thümlicher National-Gottheiten, und neben einem eng- herzigen, spartanischen oder römischen Patriotismus, der kein politisches Leben auſser seinem engen Kreise dul- den will, — überall nicht zur Erscheinung durchgebro- chen; sondern sie lasse ihr Licht nur in dem Maaſse heller leuchten, wie die Menschen sich zur Ueberlegung dessen erheben, was mit dem Willen Aller bestehen könne. Man sieht nun leicht ein, (oder man kann es aus der praktischen Philosophie leicht erkennen) daſs hieran aller- dings etwas Wahres ist. Die Sittlichkeit ist zwar nicht ganz ein Werk der Reflexion, sondern ein Theil von ihr liegt in natürlichen Gefühlen des Wohlwollens, die sich unmittelbar Niemand geben kann; ein andrer Theil ist ursprüngliche Kraft, die man im Menschen, so wie er aus Leib und Seele schon geschaffen dasteht, nur vorfinden und an dargebotenen Gegenständen über kann; wieder ein andrer Theil ist richtiges ästhetisches Urtheil, welches gar nicht vom Abstracten, sondern von einzelnen wirklichen Fällen anzuheben, und auf niedrigen Culturstufen sich zuweilen unerwartet, wie ein Blitz, je- doch auch eben so vorübergehend, zu zeigen pflegt; — aber diese einzelnen Factoren der Tugend *) sind noch nicht die Tugend selbst; sie bedürfen noch, gesammelt, geläutert, gesichert, durch Maximen, durch Grundsätze,
*) Oder vollends einzelne heftige Aeuſserungen derselben, die unter dem Namen tugendhafter Handlungen bewundert zu werden pflegen.
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Zustände des noch nicht reflectirenden Menschen, der an
keine allgemeine Gesetzgebung denkt, sondern für sich,
und für Wenige, die er liebt, oder als die Seinigen be-
trachtet, lebt und sorgt, gar nicht die Sphäre erreichen
können, worin nach dieser Ansicht die Sittlichkeit allein
zu suchen wäre. Darum paſst es für Niemanden weni-
ger als für Kant, so spröde zu thun gegen die Civilisi-
rung. Denn mit ihr Hand in Hand geht die Reflexion;
und dem gemäſs müſste man sagen, die Freyheit sey
dort, wo noch der Gedanke einer allgemeinen Gesetzge-
bung nicht aufkommen kann neben dem Cultus eigen-
thümlicher National-Gottheiten, und neben einem eng-
herzigen, spartanischen oder römischen Patriotismus, der
kein politisches Leben auſser seinem engen Kreise dul-
den will, — überall nicht zur Erscheinung durchgebro-
chen; sondern sie lasse ihr Licht nur in dem Maaſse
heller leuchten, wie die Menschen sich zur Ueberlegung
dessen erheben, was mit dem Willen Aller bestehen könne.
Man sieht nun leicht ein, (oder man kann es aus der
praktischen Philosophie leicht erkennen) daſs hieran aller-
dings etwas Wahres ist. Die Sittlichkeit ist zwar nicht
ganz ein Werk der Reflexion, sondern ein Theil von
ihr liegt in natürlichen Gefühlen des Wohlwollens, die
sich unmittelbar Niemand geben kann; ein andrer
Theil ist ursprüngliche Kraft, die man im Menschen,
so wie er aus Leib und Seele schon geschaffen dasteht,
nur vorfinden und an dargebotenen Gegenständen über
kann; wieder ein andrer Theil ist richtiges ästhetisches
Urtheil, welches gar nicht vom Abstracten, sondern von
einzelnen wirklichen Fällen anzuheben, und auf niedrigen
Culturstufen sich zuweilen unerwartet, wie ein Blitz, je-
doch auch eben so vorübergehend, zu zeigen pflegt; —
aber diese einzelnen Factoren der Tugend *) sind noch
nicht die Tugend selbst; sie bedürfen noch, gesammelt,
geläutert, gesichert, durch Maximen, durch Grundsätze,
*) Oder vollends einzelne heftige Aeuſserungen derselben, die
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 429. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/464>, abgerufen am 25.11.2024.
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