gen das vorige Uebel nur dadurch Schutz leistet, dass es ein neues Uebel herbeybringt. Wir wissen aus Kants Religionslehre, dass er den Fortschritt der Menschheit zum Bessern leugnete. "Diese Meinung," sagt er, "hat "man sicherlich nicht aus der Erfahrung geschöpft, wenn "vom Moralisch - Guten oder Bösen (nicht von der "Civilisirung) die Rede ist: denn da spricht die Geschichte "aller Zeiten gar zu mächtig gegen sie, sondern es ist "vermuthlich bloss eine gutmüthige Voraussetzung der "Moralisten von Seneka bis zu Rousseau, um zum un- "verdrossenen Anbau des vielleicht in uns liegenden Kei "mes zum Guten anzutreiben, wenn man nur auf eine "natürliche Grundlage dazu im Menschen rechnen könne."
Von Keimen, von natürlichen Grundlagen, kann ich nicht das Geringste einräumen, vielweniger mit jenen Gut- müthigen voraussetzen; sie sind der Tod der Metaphysik und der Psychologie. Ueber die Geschichte, und deren Auslegung, würde ich ebenfalls wider Kant nicht streiten, wenn nicht sein Gegensatz zwischen dem Moralisch-Gu- ten und der Civilisirung, durch Uebertreibung dazu ver- anlasste. Zuerst aber bemerke ich, dass die transscen- dentale Freyheit, weil sie eine so schlechte Geschichte statt der vortrefflichen, die man von ihr erwarten konnte, bisher zugelassen hat, allerdings nicht die geringste Hoff- nung darbietet, ihre Erscheinung in der Sinnenwelt werde jemals genügender ausfallen. Während nun dieser Punct der Kantischen Lehre in der That ganz geeignet ist, jene niederschlagende Ableugnung alles wesentlichen Fort- schreitens zu unterstützen: sehe ich doch einen andern Theil der nämlichen Lehre, der zu weit günstigern An- sichten nicht bloss einladet, sondern berechtigt und so- gar nöthigt. Kants Handeln nach der Idee einer allge- meinen Gesetzgebung für alle Vernunftwesen, und zwar nicht bloss gemäss dieser Idee, sondern auf ihren An- trieb ganz allein, -- stellt die Sittlichkeit so ganz auf die Spitze einer vollendeten, das ganze menschliche Be- wusstseyn durchdringenden Reflexion, dass die niedern
gen das vorige Uebel nur dadurch Schutz leistet, daſs es ein neues Uebel herbeybringt. Wir wissen aus Kants Religionslehre, daſs er den Fortschritt der Menschheit zum Bessern leugnete. „Diese Meinung,“ sagt er, „hat „man sicherlich nicht aus der Erfahrung geschöpft, wenn „vom Moralisch - Guten oder Bösen (nicht von der „Civilisirung) die Rede ist: denn da spricht die Geschichte „aller Zeiten gar zu mächtig gegen sie, sondern es ist „vermuthlich bloſs eine gutmüthige Voraussetzung der „Moralisten von Seneka bis zu Rousseau, um zum un- „verdrossenen Anbau des vielleicht in uns liegenden Kei „mes zum Guten anzutreiben, wenn man nur auf eine „natürliche Grundlage dazu im Menschen rechnen könne.“
Von Keimen, von natürlichen Grundlagen, kann ich nicht das Geringste einräumen, vielweniger mit jenen Gut- müthigen voraussetzen; sie sind der Tod der Metaphysik und der Psychologie. Ueber die Geschichte, und deren Auslegung, würde ich ebenfalls wider Kant nicht streiten, wenn nicht sein Gegensatz zwischen dem Moralisch-Gu- ten und der Civilisirung, durch Uebertreibung dazu ver- anlaſste. Zuerst aber bemerke ich, daſs die transscen- dentale Freyheit, weil sie eine so schlechte Geschichte statt der vortrefflichen, die man von ihr erwarten konnte, bisher zugelassen hat, allerdings nicht die geringste Hoff- nung darbietet, ihre Erscheinung in der Sinnenwelt werde jemals genügender ausfallen. Während nun dieser Punct der Kantischen Lehre in der That ganz geeignet ist, jene niederschlagende Ableugnung alles wesentlichen Fort- schreitens zu unterstützen: sehe ich doch einen andern Theil der nämlichen Lehre, der zu weit günstigern An- sichten nicht bloſs einladet, sondern berechtigt und so- gar nöthigt. Kants Handeln nach der Idee einer allge- meinen Gesetzgebung für alle Vernunftwesen, und zwar nicht bloſs gemäſs dieser Idee, sondern auf ihren An- trieb ganz allein, — stellt die Sittlichkeit so ganz auf die Spitze einer vollendeten, das ganze menschliche Be- wuſstseyn durchdringenden Reflexion, daſs die niedern
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0463"n="428"/>
gen das vorige Uebel nur dadurch Schutz leistet, daſs es<lb/>
ein neues Uebel herbeybringt. Wir wissen aus <hirendition="#g">Kants</hi><lb/>
Religionslehre, daſs er den Fortschritt der Menschheit<lb/>
zum Bessern leugnete. „Diese Meinung,“ sagt er, „hat<lb/>„man sicherlich nicht aus der Erfahrung geschöpft, wenn<lb/>„vom <hirendition="#g">Moralisch</hi> - Guten oder Bösen (nicht von der<lb/>„Civilisirung) die Rede ist: denn da spricht die Geschichte<lb/>„aller Zeiten gar zu mächtig gegen sie, sondern es ist<lb/>„vermuthlich bloſs eine gutmüthige Voraussetzung der<lb/>„Moralisten von Seneka bis zu Rousseau, um zum un-<lb/>„verdrossenen Anbau des vielleicht in uns liegenden Kei<lb/>„mes zum Guten anzutreiben, wenn man nur auf eine<lb/>„natürliche Grundlage dazu im Menschen rechnen könne.“</p><lb/><p>Von Keimen, von natürlichen Grundlagen, kann ich<lb/>
nicht das Geringste einräumen, vielweniger mit jenen Gut-<lb/>
müthigen voraussetzen; sie sind der Tod der Metaphysik<lb/>
und der Psychologie. Ueber die Geschichte, und deren<lb/>
Auslegung, würde ich ebenfalls wider <hirendition="#g">Kant</hi> nicht streiten,<lb/>
wenn nicht sein Gegensatz zwischen dem Moralisch-Gu-<lb/>
ten und der Civilisirung, durch Uebertreibung dazu ver-<lb/>
anlaſste. Zuerst aber bemerke ich, daſs die transscen-<lb/>
dentale Freyheit, weil sie eine so schlechte Geschichte<lb/>
statt der vortrefflichen, die man von ihr erwarten konnte,<lb/>
bisher zugelassen hat, allerdings nicht die geringste Hoff-<lb/>
nung darbietet, ihre Erscheinung in der Sinnenwelt werde<lb/>
jemals genügender ausfallen. Während nun dieser Punct<lb/>
der Kantischen Lehre in der That ganz geeignet ist, jene<lb/>
niederschlagende Ableugnung alles wesentlichen Fort-<lb/>
schreitens zu unterstützen: sehe ich doch einen andern<lb/>
Theil der nämlichen Lehre, der zu weit günstigern An-<lb/>
sichten nicht bloſs einladet, sondern berechtigt und so-<lb/>
gar nöthigt. <hirendition="#g">Kants</hi> Handeln nach der Idee einer allge-<lb/>
meinen Gesetzgebung für alle Vernunftwesen, und zwar<lb/>
nicht bloſs <hirendition="#g">gemäſs</hi> dieser Idee, sondern <hirendition="#g">auf ihren An-<lb/>
trieb ganz allein</hi>, — stellt die Sittlichkeit so ganz auf<lb/>
die Spitze einer vollendeten, das ganze menschliche Be-<lb/>
wuſstseyn durchdringenden <hirendition="#i"><hirendition="#g">Reflexion</hi></hi>, daſs die niedern<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[428/0463]
gen das vorige Uebel nur dadurch Schutz leistet, daſs es
ein neues Uebel herbeybringt. Wir wissen aus Kants
Religionslehre, daſs er den Fortschritt der Menschheit
zum Bessern leugnete. „Diese Meinung,“ sagt er, „hat
„man sicherlich nicht aus der Erfahrung geschöpft, wenn
„vom Moralisch - Guten oder Bösen (nicht von der
„Civilisirung) die Rede ist: denn da spricht die Geschichte
„aller Zeiten gar zu mächtig gegen sie, sondern es ist
„vermuthlich bloſs eine gutmüthige Voraussetzung der
„Moralisten von Seneka bis zu Rousseau, um zum un-
„verdrossenen Anbau des vielleicht in uns liegenden Kei
„mes zum Guten anzutreiben, wenn man nur auf eine
„natürliche Grundlage dazu im Menschen rechnen könne.“
Von Keimen, von natürlichen Grundlagen, kann ich
nicht das Geringste einräumen, vielweniger mit jenen Gut-
müthigen voraussetzen; sie sind der Tod der Metaphysik
und der Psychologie. Ueber die Geschichte, und deren
Auslegung, würde ich ebenfalls wider Kant nicht streiten,
wenn nicht sein Gegensatz zwischen dem Moralisch-Gu-
ten und der Civilisirung, durch Uebertreibung dazu ver-
anlaſste. Zuerst aber bemerke ich, daſs die transscen-
dentale Freyheit, weil sie eine so schlechte Geschichte
statt der vortrefflichen, die man von ihr erwarten konnte,
bisher zugelassen hat, allerdings nicht die geringste Hoff-
nung darbietet, ihre Erscheinung in der Sinnenwelt werde
jemals genügender ausfallen. Während nun dieser Punct
der Kantischen Lehre in der That ganz geeignet ist, jene
niederschlagende Ableugnung alles wesentlichen Fort-
schreitens zu unterstützen: sehe ich doch einen andern
Theil der nämlichen Lehre, der zu weit günstigern An-
sichten nicht bloſs einladet, sondern berechtigt und so-
gar nöthigt. Kants Handeln nach der Idee einer allge-
meinen Gesetzgebung für alle Vernunftwesen, und zwar
nicht bloſs gemäſs dieser Idee, sondern auf ihren An-
trieb ganz allein, — stellt die Sittlichkeit so ganz auf
die Spitze einer vollendeten, das ganze menschliche Be-
wuſstseyn durchdringenden Reflexion, daſs die niedern
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 428. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/463>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.