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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Doch wir müssen vermeiden, gleich Anfangs vom
Sittlichen zu reden. Denn wiewohl dieses als das wich-
tigste und schönste Erzeugniss der praktischen Vernunft
anzusehen ist, so ist es doch weder das einzige noch das
früheste. Man blättere im Homer, oder in den Samm-
lungen alter Sittensprüche; es wird sich bald entdecken,
wie dünn die eigentlich moralischen Sentenzen unter den
Maximen gemeiner Klugheit mit eingestreut sind.

Das allgemeine psychologische Problem: wie über-
haupt Maximen sich bilden können?
scheint bis-
her nicht sonderlich beachtet zu seyn. Wenigstens so
leicht ist es nicht, dass man es schlechtweg wie eine An-
wendung des logisch allgemeinen Denkens auf die Will-
kühr, ansehn dürfte. Wenn im gewöhnlichen Unter-
richte Maximen gelernt und gelehrt werden: dann pflegt
man wohl erst zu glauben, die Maximen seyen Triebfe-
dern des Willens; hintennach sich zu wundern, dass die
treibende Kraft nichts wirkt. Aber in solchem Falle sind
die Worte, welche von Seiten des Lehrers ein allge-
meines Wollen
ausdrückten, für den Schüler in blosse
theoretische allgemeine Begriffe eines mögli-
chen Wollens
übergegangen, womit dessen wirkliches
Begehren in gar keiner Verbindung steht. Daher sind
auch alle Schlussfolgen in der Moral gehaltlos, wenn nicht
die Obersätze ein wirklich vorhandenes Wollen bezeich-
nen, das alsdann gleich einem Gedanken durch die Un-
tersätze in die Conclusionen hinübergeht.

Das allgemeine Wollen muss auf ähnliche Weise
zu Stande kommen, wie das allgemeine Denken. Also
zuerst müssen solche Vorstellungen, die im Zustande des
Begehrens sich befinden, und zwar ihrer viele ähnliche,
untereinander verschmelzen; dann muss das Verschmol-
zene auf dem Wege der Urtheile bestimmt und begränzt
werden. Jenes nach Analogie der §. 121., 122., dieses
gemäss dem §. 147.

Allein der Zustand des Begehrens ist ein flüchtiger,
und gar nicht wesentlicher Zustand der Vorstellungen;
wie können daraus beharrliche Maximen entstehn? --

Doch wir müssen vermeiden, gleich Anfangs vom
Sittlichen zu reden. Denn wiewohl dieses als das wich-
tigste und schönste Erzeugniſs der praktischen Vernunft
anzusehen ist, so ist es doch weder das einzige noch das
früheste. Man blättere im Homer, oder in den Samm-
lungen alter Sittensprüche; es wird sich bald entdecken,
wie dünn die eigentlich moralischen Sentenzen unter den
Maximen gemeiner Klugheit mit eingestreut sind.

Das allgemeine psychologische Problem: wie über-
haupt Maximen sich bilden können?
scheint bis-
her nicht sonderlich beachtet zu seyn. Wenigstens so
leicht ist es nicht, daſs man es schlechtweg wie eine An-
wendung des logisch allgemeinen Denkens auf die Will-
kühr, ansehn dürfte. Wenn im gewöhnlichen Unter-
richte Maximen gelernt und gelehrt werden: dann pflegt
man wohl erst zu glauben, die Maximen seyen Triebfe-
dern des Willens; hintennach sich zu wundern, daſs die
treibende Kraft nichts wirkt. Aber in solchem Falle sind
die Worte, welche von Seiten des Lehrers ein allge-
meines Wollen
ausdrückten, für den Schüler in bloſse
theoretische allgemeine Begriffe eines mögli-
chen Wollens
übergegangen, womit dessen wirkliches
Begehren in gar keiner Verbindung steht. Daher sind
auch alle Schluſsfolgen in der Moral gehaltlos, wenn nicht
die Obersätze ein wirklich vorhandenes Wollen bezeich-
nen, das alsdann gleich einem Gedanken durch die Un-
tersätze in die Conclusionen hinübergeht.

Das allgemeine Wollen muſs auf ähnliche Weise
zu Stande kommen, wie das allgemeine Denken. Also
zuerst müssen solche Vorstellungen, die im Zustande des
Begehrens sich befinden, und zwar ihrer viele ähnliche,
untereinander verschmelzen; dann muſs das Verschmol-
zene auf dem Wege der Urtheile bestimmt und begränzt
werden. Jenes nach Analogie der §. 121., 122., dieses
gemäſs dem §. 147.

Allein der Zustand des Begehrens ist ein flüchtiger,
und gar nicht wesentlicher Zustand der Vorstellungen;
wie können daraus beharrliche Maximen entstehn? —

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[409/0444] Doch wir müssen vermeiden, gleich Anfangs vom Sittlichen zu reden. Denn wiewohl dieses als das wich- tigste und schönste Erzeugniſs der praktischen Vernunft anzusehen ist, so ist es doch weder das einzige noch das früheste. Man blättere im Homer, oder in den Samm- lungen alter Sittensprüche; es wird sich bald entdecken, wie dünn die eigentlich moralischen Sentenzen unter den Maximen gemeiner Klugheit mit eingestreut sind. Das allgemeine psychologische Problem: wie über- haupt Maximen sich bilden können? scheint bis- her nicht sonderlich beachtet zu seyn. Wenigstens so leicht ist es nicht, daſs man es schlechtweg wie eine An- wendung des logisch allgemeinen Denkens auf die Will- kühr, ansehn dürfte. Wenn im gewöhnlichen Unter- richte Maximen gelernt und gelehrt werden: dann pflegt man wohl erst zu glauben, die Maximen seyen Triebfe- dern des Willens; hintennach sich zu wundern, daſs die treibende Kraft nichts wirkt. Aber in solchem Falle sind die Worte, welche von Seiten des Lehrers ein allge- meines Wollen ausdrückten, für den Schüler in bloſse theoretische allgemeine Begriffe eines mögli- chen Wollens übergegangen, womit dessen wirkliches Begehren in gar keiner Verbindung steht. Daher sind auch alle Schluſsfolgen in der Moral gehaltlos, wenn nicht die Obersätze ein wirklich vorhandenes Wollen bezeich- nen, das alsdann gleich einem Gedanken durch die Un- tersätze in die Conclusionen hinübergeht. Das allgemeine Wollen muſs auf ähnliche Weise zu Stande kommen, wie das allgemeine Denken. Also zuerst müssen solche Vorstellungen, die im Zustande des Begehrens sich befinden, und zwar ihrer viele ähnliche, untereinander verschmelzen; dann muſs das Verschmol- zene auf dem Wege der Urtheile bestimmt und begränzt werden. Jenes nach Analogie der §. 121., 122., dieses gemäſs dem §. 147. Allein der Zustand des Begehrens ist ein flüchtiger, und gar nicht wesentlicher Zustand der Vorstellungen; wie können daraus beharrliche Maximen entstehn? —

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 409. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/444>, abgerufen am 22.11.2024.