schichte des Irrthums sogleich noch andre Beyträge lie- fern müssen.
§. 149.
Das Unendliche *) verhält sich zum Unbedingten wie Entlaufen zum Stillstehn, Verlust zum Besitz; daher wie das Leere zum Vollen; wie Nichts zu Etwas.
Das Unendliche in seinem Streite mit dem Unbe- dingten darzustellen, dies war die eigentliche Aufgabe, welche Kant in seiner Antinomien-Lehre zu lösen hatte. Von Rechtswegen musste die Thesis überall das Unbe- dingte veststellen; die Antithesis dagegen, wie getrieben vom Geiste des Widerspruchs, überall das Unendliche eröffnen, um dahinaus das Unbedingte zu vertreiben. Denn was im Unendlichen geschieht, das geschieht nie- mals; und bey den Mathematikern gilt es gleich, zu sa- gen, die Hyperbel falle nie, oder sie falle im Unendli- chen mit ihrer Asymptote zusammen. Dann aber wäre freylich von keiner Dialektik der reinen Vernunft die Rede gewesen; denn die Thesis hat entschiedenes Recht, und die Antithesis entschiedenes Unrecht, sobald beyde gehörig gefasst werden. Allein vor aller weitern Erläute- rung müssen wir erst überlegen, wie der Begriff des Un- bedingten entstehe?
Bey aller Verschiedenheit, sind dennoch Unbeding- tes und Unendliches darin ähnlich, dass sie durch eine reihenförmige Construction gedacht werden. Das Unbe- dingte erfordert zwar nicht viele Fortschreitungen nach einerley Regel; aber es steht dem Bedingten entgegen, und soll für den Durchgang durch dasselbe den Endpunct und Ruhepunct darbieten. Das Bedingte nun zuförderst
*) Der Leser muss hier meine Hauptpuncte der Metaphysik von neuem durchdenken. Zur Uebung diene folgender Satz: Es ist gleich- bedeutend, von den einfachen Wesen zu sagen; sie haben unend- lich viele Kräfte, oder, sie haben gar keine. Denn ihre Kräfte beruhen auf ihren möglichen Relationen zu anderen Wesen. Deren giebt es unendlich viele. Aber keine Möglichkeit ist real, und keine Relation ist eine Eigenschaft.
B b 2
schichte des Irrthums sogleich noch andre Beyträge lie- fern müssen.
§. 149.
Das Unendliche *) verhält sich zum Unbedingten wie Entlaufen zum Stillstehn, Verlust zum Besitz; daher wie das Leere zum Vollen; wie Nichts zu Etwas.
Das Unendliche in seinem Streite mit dem Unbe- dingten darzustellen, dies war die eigentliche Aufgabe, welche Kant in seiner Antinomien-Lehre zu lösen hatte. Von Rechtswegen muſste die Thesis überall das Unbe- dingte veststellen; die Antithesis dagegen, wie getrieben vom Geiste des Widerspruchs, überall das Unendliche eröffnen, um dahinaus das Unbedingte zu vertreiben. Denn was im Unendlichen geschieht, das geschieht nie- mals; und bey den Mathematikern gilt es gleich, zu sa- gen, die Hyperbel falle nie, oder sie falle im Unendli- chen mit ihrer Asymptote zusammen. Dann aber wäre freylich von keiner Dialektik der reinen Vernunft die Rede gewesen; denn die Thesis hat entschiedenes Recht, und die Antithesis entschiedenes Unrecht, sobald beyde gehörig gefaſst werden. Allein vor aller weitern Erläute- rung müssen wir erst überlegen, wie der Begriff des Un- bedingten entstehe?
Bey aller Verschiedenheit, sind dennoch Unbeding- tes und Unendliches darin ähnlich, daſs sie durch eine reihenförmige Construction gedacht werden. Das Unbe- dingte erfordert zwar nicht viele Fortschreitungen nach einerley Regel; aber es steht dem Bedingten entgegen, und soll für den Durchgang durch dasselbe den Endpunct und Ruhepunct darbieten. Das Bedingte nun zuförderst
*) Der Leser muſs hier meine Hauptpuncte der Metaphysik von neuem durchdenken. Zur Uebung diene folgender Satz: Es ist gleich- bedeutend, von den einfachen Wesen zu sagen; sie haben unend- lich viele Kräfte, oder, sie haben gar keine. Denn ihre Kräfte beruhen auf ihren möglichen Relationen zu anderen Wesen. Deren giebt es unendlich viele. Aber keine Möglichkeit ist real, und keine Relation ist eine Eigenschaft.
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schichte des Irrthums sogleich noch andre Beyträge lie-
fern müssen.
§. 149.
Das Unendliche *) verhält sich zum Unbedingten wie
Entlaufen zum Stillstehn, Verlust zum Besitz; daher wie
das Leere zum Vollen; wie Nichts zu Etwas.
Das Unendliche in seinem Streite mit dem Unbe-
dingten darzustellen, dies war die eigentliche Aufgabe,
welche Kant in seiner Antinomien-Lehre zu lösen hatte.
Von Rechtswegen muſste die Thesis überall das Unbe-
dingte veststellen; die Antithesis dagegen, wie getrieben
vom Geiste des Widerspruchs, überall das Unendliche
eröffnen, um dahinaus das Unbedingte zu vertreiben.
Denn was im Unendlichen geschieht, das geschieht nie-
mals; und bey den Mathematikern gilt es gleich, zu sa-
gen, die Hyperbel falle nie, oder sie falle im Unendli-
chen mit ihrer Asymptote zusammen. Dann aber wäre
freylich von keiner Dialektik der reinen Vernunft die
Rede gewesen; denn die Thesis hat entschiedenes Recht,
und die Antithesis entschiedenes Unrecht, sobald beyde
gehörig gefaſst werden. Allein vor aller weitern Erläute-
rung müssen wir erst überlegen, wie der Begriff des Un-
bedingten entstehe?
Bey aller Verschiedenheit, sind dennoch Unbeding-
tes und Unendliches darin ähnlich, daſs sie durch eine
reihenförmige Construction gedacht werden. Das Unbe-
dingte erfordert zwar nicht viele Fortschreitungen nach
einerley Regel; aber es steht dem Bedingten entgegen,
und soll für den Durchgang durch dasselbe den Endpunct
und Ruhepunct darbieten. Das Bedingte nun zuförderst
*) Der Leser muſs hier meine Hauptpuncte der Metaphysik von
neuem durchdenken. Zur Uebung diene folgender Satz: Es ist gleich-
bedeutend, von den einfachen Wesen zu sagen; sie haben unend-
lich viele Kräfte, oder, sie haben gar keine. Denn ihre Kräfte
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/422>, abgerufen am 22.11.2024.
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