Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

Bild:
<< vorherige Seite

Gerade darum, weil kein räumliches, kein dem Raume
analoges, endliches Object, durch eine stehende, ruhende
Vorstellung kann aufgefasst werden, -- weil vielmehr in
ihm ein nisus unzähliger Reproductionen, gemäss den
Verschmelzungen aller Partial-Vorstellungen, thätig seyn
muss, damit die Theile sich sondern, und jeder seinen
Platz zwischen und neben den andern einnehmen könne;
weil ferner hiedurch gewöhnlich auch früher gebildete
Vorstellungsreihen angeregt werden, die, indem sie sich
auf die einzelnen Theile des Gegenstandes übertragen,
und gleichsam mit ihren Anfangspuncten daran haften,
nun auch noch über dessen Gränzen hinaus zu gehn
streben, aber von einer Hemmung durch das jenseits
der Gränzen Liegende, oder selbst durch die Bestimmt-
heit der eigenthümlichen Form des Gegenstandes, zurück
getrieben zu werden pflegen; -- also kurz, weil die Vor-
stellung des endlichen Objects ein Streben einschliesst:
darum ist die Ueberschreitung der Gränze zuerst mit ei-
nem neuen Gefühl verbunden, welches in so fern ein
behagliches werden kann, als dadurch die zuvor gehemm-
ten Reihen nun wenigstens für einen Augenblick sich
ausbreiten können, bis eine neue Hemmung sich gegen
sie ansammelt, deren übrige Wirkung von den Umstän-
den abhängt. Das Unendliche nun droht dem, welcher
in dasselbe hinausschaut, mit gar keiner Hemmung; die
Vorstellung desselben ist eine Evolution, die so weit
reicht, als der Trieb des jetzigen Vorstellens sie trägt.
Kein Wunder, dass hierin Freyheit eben in so fern ge-
fühlt wird, als die Begränzung im Endlichen schmerzhaft
war empfunden worden.

2) Das Unendliche wird aufgefasst als das letzte
Hemmende, Begränzende; daher als das Erste und Un-
bedingte.

Schwerlich konnte es je einem Mathematiker einfal-
len, die späteren Glieder einer Reihe als die Bedingungen
der frühern anzusehn; am wenigsten die, welche unend-
lich entfernt sind, gerade umgekehrt als die ersten zu

Gerade darum, weil kein räumliches, kein dem Raume
analoges, endliches Object, durch eine stehende, ruhende
Vorstellung kann aufgefaſst werden, — weil vielmehr in
ihm ein nisus unzähliger Reproductionen, gemäſs den
Verschmelzungen aller Partial-Vorstellungen, thätig seyn
muſs, damit die Theile sich sondern, und jeder seinen
Platz zwischen und neben den andern einnehmen könne;
weil ferner hiedurch gewöhnlich auch früher gebildete
Vorstellungsreihen angeregt werden, die, indem sie sich
auf die einzelnen Theile des Gegenstandes übertragen,
und gleichsam mit ihren Anfangspuncten daran haften,
nun auch noch über dessen Gränzen hinaus zu gehn
streben, aber von einer Hemmung durch das jenseits
der Gränzen Liegende, oder selbst durch die Bestimmt-
heit der eigenthümlichen Form des Gegenstandes, zurück
getrieben zu werden pflegen; — also kurz, weil die Vor-
stellung des endlichen Objects ein Streben einschlieſst:
darum ist die Ueberschreitung der Gränze zuerst mit ei-
nem neuen Gefühl verbunden, welches in so fern ein
behagliches werden kann, als dadurch die zuvor gehemm-
ten Reihen nun wenigstens für einen Augenblick sich
ausbreiten können, bis eine neue Hemmung sich gegen
sie ansammelt, deren übrige Wirkung von den Umstän-
den abhängt. Das Unendliche nun droht dem, welcher
in dasselbe hinausschaut, mit gar keiner Hemmung; die
Vorstellung desselben ist eine Evolution, die so weit
reicht, als der Trieb des jetzigen Vorstellens sie trägt.
Kein Wunder, daſs hierin Freyheit eben in so fern ge-
fühlt wird, als die Begränzung im Endlichen schmerzhaft
war empfunden worden.

2) Das Unendliche wird aufgefaſst als das letzte
Hemmende, Begränzende; daher als das Erste und Un-
bedingte.

Schwerlich konnte es je einem Mathematiker einfal-
len, die späteren Glieder einer Reihe als die Bedingungen
der frühern anzusehn; am wenigsten die, welche unend-
lich entfernt sind, gerade umgekehrt als die ersten zu

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0418" n="383"/>
              <p>Gerade darum, weil kein räumliches, kein dem Raume<lb/>
analoges, endliches Object, durch eine stehende, ruhende<lb/>
Vorstellung kann aufgefa&#x017F;st werden, &#x2014; weil vielmehr in<lb/>
ihm ein <hi rendition="#i">nisus</hi> unzähliger Reproductionen, gemä&#x017F;s den<lb/>
Verschmelzungen aller Partial-Vorstellungen, thätig seyn<lb/>
mu&#x017F;s, damit die Theile sich sondern, und jeder seinen<lb/>
Platz zwischen und neben den andern einnehmen könne;<lb/>
weil ferner hiedurch gewöhnlich auch früher gebildete<lb/>
Vorstellungsreihen angeregt werden, die, indem sie sich<lb/>
auf die einzelnen Theile des Gegenstandes übertragen,<lb/>
und gleichsam mit ihren Anfangspuncten daran haften,<lb/>
nun auch noch über dessen Gränzen hinaus zu gehn<lb/>
streben, aber von einer Hemmung durch das <hi rendition="#g">jenseits</hi><lb/>
der Gränzen Liegende, oder selbst durch die Bestimmt-<lb/>
heit der eigenthümlichen Form des Gegenstandes, zurück<lb/>
getrieben zu werden pflegen; &#x2014; also kurz, weil die Vor-<lb/>
stellung des endlichen Objects ein <hi rendition="#g">Streben</hi> einschlie&#x017F;st:<lb/>
darum ist die Ueberschreitung der Gränze zuerst mit ei-<lb/>
nem neuen Gefühl verbunden, welches in so fern ein<lb/>
behagliches werden kann, als dadurch die zuvor gehemm-<lb/>
ten Reihen nun wenigstens für einen Augenblick sich<lb/>
ausbreiten können, bis eine neue Hemmung sich gegen<lb/>
sie ansammelt, deren übrige Wirkung von den Umstän-<lb/>
den abhängt. Das Unendliche nun droht dem, welcher<lb/>
in dasselbe hinausschaut, mit gar keiner Hemmung; die<lb/>
Vorstellung desselben ist eine Evolution, die so weit<lb/>
reicht, als der Trieb des jetzigen Vorstellens sie trägt.<lb/>
Kein Wunder, da&#x017F;s hierin Freyheit eben in so fern ge-<lb/>
fühlt wird, als die Begränzung im Endlichen schmerzhaft<lb/>
war empfunden worden.</p><lb/>
              <p>2) Das Unendliche wird aufgefa&#x017F;st als das letzte<lb/>
Hemmende, Begränzende; daher als das Erste und Un-<lb/>
bedingte.</p><lb/>
              <p>Schwerlich konnte es je einem Mathematiker einfal-<lb/>
len, die späteren Glieder einer Reihe als die Bedingungen<lb/>
der frühern anzusehn; am wenigsten die, welche unend-<lb/>
lich entfernt sind, gerade umgekehrt als die ersten zu<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[383/0418] Gerade darum, weil kein räumliches, kein dem Raume analoges, endliches Object, durch eine stehende, ruhende Vorstellung kann aufgefaſst werden, — weil vielmehr in ihm ein nisus unzähliger Reproductionen, gemäſs den Verschmelzungen aller Partial-Vorstellungen, thätig seyn muſs, damit die Theile sich sondern, und jeder seinen Platz zwischen und neben den andern einnehmen könne; weil ferner hiedurch gewöhnlich auch früher gebildete Vorstellungsreihen angeregt werden, die, indem sie sich auf die einzelnen Theile des Gegenstandes übertragen, und gleichsam mit ihren Anfangspuncten daran haften, nun auch noch über dessen Gränzen hinaus zu gehn streben, aber von einer Hemmung durch das jenseits der Gränzen Liegende, oder selbst durch die Bestimmt- heit der eigenthümlichen Form des Gegenstandes, zurück getrieben zu werden pflegen; — also kurz, weil die Vor- stellung des endlichen Objects ein Streben einschlieſst: darum ist die Ueberschreitung der Gränze zuerst mit ei- nem neuen Gefühl verbunden, welches in so fern ein behagliches werden kann, als dadurch die zuvor gehemm- ten Reihen nun wenigstens für einen Augenblick sich ausbreiten können, bis eine neue Hemmung sich gegen sie ansammelt, deren übrige Wirkung von den Umstän- den abhängt. Das Unendliche nun droht dem, welcher in dasselbe hinausschaut, mit gar keiner Hemmung; die Vorstellung desselben ist eine Evolution, die so weit reicht, als der Trieb des jetzigen Vorstellens sie trägt. Kein Wunder, daſs hierin Freyheit eben in so fern ge- fühlt wird, als die Begränzung im Endlichen schmerzhaft war empfunden worden. 2) Das Unendliche wird aufgefaſst als das letzte Hemmende, Begränzende; daher als das Erste und Un- bedingte. Schwerlich konnte es je einem Mathematiker einfal- len, die späteren Glieder einer Reihe als die Bedingungen der frühern anzusehn; am wenigsten die, welche unend- lich entfernt sind, gerade umgekehrt als die ersten zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/418
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/418>, abgerufen am 22.11.2024.