Gerade darum, weil kein räumliches, kein dem Raume analoges, endliches Object, durch eine stehende, ruhende Vorstellung kann aufgefasst werden, -- weil vielmehr in ihm ein nisus unzähliger Reproductionen, gemäss den Verschmelzungen aller Partial-Vorstellungen, thätig seyn muss, damit die Theile sich sondern, und jeder seinen Platz zwischen und neben den andern einnehmen könne; weil ferner hiedurch gewöhnlich auch früher gebildete Vorstellungsreihen angeregt werden, die, indem sie sich auf die einzelnen Theile des Gegenstandes übertragen, und gleichsam mit ihren Anfangspuncten daran haften, nun auch noch über dessen Gränzen hinaus zu gehn streben, aber von einer Hemmung durch das jenseits der Gränzen Liegende, oder selbst durch die Bestimmt- heit der eigenthümlichen Form des Gegenstandes, zurück getrieben zu werden pflegen; -- also kurz, weil die Vor- stellung des endlichen Objects ein Streben einschliesst: darum ist die Ueberschreitung der Gränze zuerst mit ei- nem neuen Gefühl verbunden, welches in so fern ein behagliches werden kann, als dadurch die zuvor gehemm- ten Reihen nun wenigstens für einen Augenblick sich ausbreiten können, bis eine neue Hemmung sich gegen sie ansammelt, deren übrige Wirkung von den Umstän- den abhängt. Das Unendliche nun droht dem, welcher in dasselbe hinausschaut, mit gar keiner Hemmung; die Vorstellung desselben ist eine Evolution, die so weit reicht, als der Trieb des jetzigen Vorstellens sie trägt. Kein Wunder, dass hierin Freyheit eben in so fern ge- fühlt wird, als die Begränzung im Endlichen schmerzhaft war empfunden worden.
2) Das Unendliche wird aufgefasst als das letzte Hemmende, Begränzende; daher als das Erste und Un- bedingte.
Schwerlich konnte es je einem Mathematiker einfal- len, die späteren Glieder einer Reihe als die Bedingungen der frühern anzusehn; am wenigsten die, welche unend- lich entfernt sind, gerade umgekehrt als die ersten zu
Gerade darum, weil kein räumliches, kein dem Raume analoges, endliches Object, durch eine stehende, ruhende Vorstellung kann aufgefaſst werden, — weil vielmehr in ihm ein nisus unzähliger Reproductionen, gemäſs den Verschmelzungen aller Partial-Vorstellungen, thätig seyn muſs, damit die Theile sich sondern, und jeder seinen Platz zwischen und neben den andern einnehmen könne; weil ferner hiedurch gewöhnlich auch früher gebildete Vorstellungsreihen angeregt werden, die, indem sie sich auf die einzelnen Theile des Gegenstandes übertragen, und gleichsam mit ihren Anfangspuncten daran haften, nun auch noch über dessen Gränzen hinaus zu gehn streben, aber von einer Hemmung durch das jenseits der Gränzen Liegende, oder selbst durch die Bestimmt- heit der eigenthümlichen Form des Gegenstandes, zurück getrieben zu werden pflegen; — also kurz, weil die Vor- stellung des endlichen Objects ein Streben einschlieſst: darum ist die Ueberschreitung der Gränze zuerst mit ei- nem neuen Gefühl verbunden, welches in so fern ein behagliches werden kann, als dadurch die zuvor gehemm- ten Reihen nun wenigstens für einen Augenblick sich ausbreiten können, bis eine neue Hemmung sich gegen sie ansammelt, deren übrige Wirkung von den Umstän- den abhängt. Das Unendliche nun droht dem, welcher in dasselbe hinausschaut, mit gar keiner Hemmung; die Vorstellung desselben ist eine Evolution, die so weit reicht, als der Trieb des jetzigen Vorstellens sie trägt. Kein Wunder, daſs hierin Freyheit eben in so fern ge- fühlt wird, als die Begränzung im Endlichen schmerzhaft war empfunden worden.
2) Das Unendliche wird aufgefaſst als das letzte Hemmende, Begränzende; daher als das Erste und Un- bedingte.
Schwerlich konnte es je einem Mathematiker einfal- len, die späteren Glieder einer Reihe als die Bedingungen der frühern anzusehn; am wenigsten die, welche unend- lich entfernt sind, gerade umgekehrt als die ersten zu
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Gerade darum, weil kein räumliches, kein dem Raume
analoges, endliches Object, durch eine stehende, ruhende
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ihm ein nisus unzähliger Reproductionen, gemäſs den
Verschmelzungen aller Partial-Vorstellungen, thätig seyn
muſs, damit die Theile sich sondern, und jeder seinen
Platz zwischen und neben den andern einnehmen könne;
weil ferner hiedurch gewöhnlich auch früher gebildete
Vorstellungsreihen angeregt werden, die, indem sie sich
auf die einzelnen Theile des Gegenstandes übertragen,
und gleichsam mit ihren Anfangspuncten daran haften,
nun auch noch über dessen Gränzen hinaus zu gehn
streben, aber von einer Hemmung durch das jenseits
der Gränzen Liegende, oder selbst durch die Bestimmt-
heit der eigenthümlichen Form des Gegenstandes, zurück
getrieben zu werden pflegen; — also kurz, weil die Vor-
stellung des endlichen Objects ein Streben einschlieſst:
darum ist die Ueberschreitung der Gränze zuerst mit ei-
nem neuen Gefühl verbunden, welches in so fern ein
behagliches werden kann, als dadurch die zuvor gehemm-
ten Reihen nun wenigstens für einen Augenblick sich
ausbreiten können, bis eine neue Hemmung sich gegen
sie ansammelt, deren übrige Wirkung von den Umstän-
den abhängt. Das Unendliche nun droht dem, welcher
in dasselbe hinausschaut, mit gar keiner Hemmung; die
Vorstellung desselben ist eine Evolution, die so weit
reicht, als der Trieb des jetzigen Vorstellens sie trägt.
Kein Wunder, daſs hierin Freyheit eben in so fern ge-
fühlt wird, als die Begränzung im Endlichen schmerzhaft
war empfunden worden.
2) Das Unendliche wird aufgefaſst als das letzte
Hemmende, Begränzende; daher als das Erste und Un-
bedingte.
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der frühern anzusehn; am wenigsten die, welche unend-
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/418>, abgerufen am 22.11.2024.
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