den Gebrauch zu. Eben so denken wir niemals wirklich eine Linie ohne Dicke; aber wir wissen, dass wir es sollten, und das genügt.
Die wirkliche Vorstellung des Unendlichen -- weit verschieden von der, wie sie seyn sollte, und wie sie seyn würde und seyn müsste, wenn sie wie ein ur- sprünglich Gegebenes in unserm Geiste a priori vorhan- den wäre, -- ist nichts als eine dünne Atmosphäre, die unsre Vorstellungen des Endlichen umhüllt; und, was das wichtigste ist, sich an sie anlegt, und von ihnen ab- hängt. Man zeige einem Knaben das Wachsen der Tan- genten und Secanten, wenn der Winkel wächst; man gehe fort bis zum Winkel von 90o; er begreift vollkom- men, dass nun Tangente und Secante unendlich werden, weil sie sich nicht mehr schneiden können. Nun hat er die Vorstellung des Unendlichen; und soll demnach über endliche Grössen nicht mehr staunen. Denn hat er sie nicht schon überschritten? -- Aber jetzt unterrichte man ihn von den Entfernungen der Himmelskörper. Das Staunen wird sich sogleich einstellen; zum Beweise, dass sein Unendliches bey weitem nicht so gross war, als diese endlichen Grössen. Und das Staunen kehrt auch bey dem Erwachsenen wieder, wenn er sich Räume denken soll, welche zu durchlaufen das Licht Jahre, Jahrhun- derte, -- Millionen von Jahrtausenden gebraucht. Das Erhabene bleibt zum Theil im Raume, obgleich Schiller es daraus ganz zu vertreiben gedachte.
Der Zustand unserer Vorstellung des Unendlichen darf uns nicht wundern. Man gehe zurück in die Me- chanik des Geistes; zu den Reproductionsgesetzen, aus denen die Reihenformen entspringen. Wir haben eher das Räumliche, als den Raum; eher das Zeitliche als die Zeit. Für das Gegebene, indem es sich gegenseitig be- wegt, erzeugen wir einen Umgebungsraum; und Anfangs steht nur dasjenige, was wir in einen und denselben Um- gebungsraum setzten, für uns in räumlichen Verhältnis- sen. Allmählig erweitert sich der Horizont, indem wir
den Gebrauch zu. Eben so denken wir niemals wirklich eine Linie ohne Dicke; aber wir wissen, daſs wir es sollten, und das genügt.
Die wirkliche Vorstellung des Unendlichen — weit verschieden von der, wie sie seyn sollte, und wie sie seyn würde und seyn müſste, wenn sie wie ein ur- sprünglich Gegebenes in unserm Geiste a priori vorhan- den wäre, — ist nichts als eine dünne Atmosphäre, die unsre Vorstellungen des Endlichen umhüllt; und, was das wichtigste ist, sich an sie anlegt, und von ihnen ab- hängt. Man zeige einem Knaben das Wachsen der Tan- genten und Secanten, wenn der Winkel wächst; man gehe fort bis zum Winkel von 90º; er begreift vollkom- men, daſs nun Tangente und Secante unendlich werden, weil sie sich nicht mehr schneiden können. Nun hat er die Vorstellung des Unendlichen; und soll demnach über endliche Gröſsen nicht mehr staunen. Denn hat er sie nicht schon überschritten? — Aber jetzt unterrichte man ihn von den Entfernungen der Himmelskörper. Das Staunen wird sich sogleich einstellen; zum Beweise, daſs sein Unendliches bey weitem nicht so groſs war, als diese endlichen Gröſsen. Und das Staunen kehrt auch bey dem Erwachsenen wieder, wenn er sich Räume denken soll, welche zu durchlaufen das Licht Jahre, Jahrhun- derte, — Millionen von Jahrtausenden gebraucht. Das Erhabene bleibt zum Theil im Raume, obgleich Schiller es daraus ganz zu vertreiben gedachte.
Der Zustand unserer Vorstellung des Unendlichen darf uns nicht wundern. Man gehe zurück in die Me- chanik des Geistes; zu den Reproductionsgesetzen, aus denen die Reihenformen entspringen. Wir haben eher das Räumliche, als den Raum; eher das Zeitliche als die Zeit. Für das Gegebene, indem es sich gegenseitig be- wegt, erzeugen wir einen Umgebungsraum; und Anfangs steht nur dasjenige, was wir in einen und denselben Um- gebungsraum setzten, für uns in räumlichen Verhältnis- sen. Allmählig erweitert sich der Horizont, indem wir
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den Gebrauch zu. Eben so denken wir niemals wirklich
eine Linie ohne Dicke; aber wir wissen, daſs wir es
sollten, und das genügt.
Die wirkliche Vorstellung des Unendlichen — weit
verschieden von der, wie sie seyn sollte, und wie sie
seyn würde und seyn müſste, wenn sie wie ein ur-
sprünglich Gegebenes in unserm Geiste a priori vorhan-
den wäre, — ist nichts als eine dünne Atmosphäre, die
unsre Vorstellungen des Endlichen umhüllt; und, was
das wichtigste ist, sich an sie anlegt, und von ihnen ab-
hängt. Man zeige einem Knaben das Wachsen der Tan-
genten und Secanten, wenn der Winkel wächst; man
gehe fort bis zum Winkel von 90º; er begreift vollkom-
men, daſs nun Tangente und Secante unendlich werden,
weil sie sich nicht mehr schneiden können. Nun hat er
die Vorstellung des Unendlichen; und soll demnach über
endliche Gröſsen nicht mehr staunen. Denn hat er sie
nicht schon überschritten? — Aber jetzt unterrichte man
ihn von den Entfernungen der Himmelskörper. Das
Staunen wird sich sogleich einstellen; zum Beweise, daſs
sein Unendliches bey weitem nicht so groſs war, als diese
endlichen Gröſsen. Und das Staunen kehrt auch bey
dem Erwachsenen wieder, wenn er sich Räume denken
soll, welche zu durchlaufen das Licht Jahre, Jahrhun-
derte, — Millionen von Jahrtausenden gebraucht. Das
Erhabene bleibt zum Theil im Raume, obgleich Schiller
es daraus ganz zu vertreiben gedachte.
Der Zustand unserer Vorstellung des Unendlichen
darf uns nicht wundern. Man gehe zurück in die Me-
chanik des Geistes; zu den Reproductionsgesetzen, aus
denen die Reihenformen entspringen. Wir haben eher
das Räumliche, als den Raum; eher das Zeitliche als die
Zeit. Für das Gegebene, indem es sich gegenseitig be-
wegt, erzeugen wir einen Umgebungsraum; und Anfangs
steht nur dasjenige, was wir in einen und denselben Um-
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 380. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/415>, abgerufen am 22.11.2024.
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