Adler. Soll diese falsche Fortschreitung verbessert wer- den, so führt sie auf Divisionen. Angenommen fürs Erste, wir gehen vom Vogel zum Adler: so hat der Adler seinen Platz in einem jener qualitativen Continuen des §. 139.; ist die Verschmelzung der dazu gehörigen Vor- stellungen gehörig zu Stande gekommen, so durchläuft das Vorstellen, gleichsam seitwärts, vom Adler abschwei- fend, die Menge der übrigen Vögel; während der schon bereit liegende, appercipirende Begriff des Vogels sie alle mit sich vereinigt. Dasselbe ereignet sich in dem Verhältnisse des Thiers zum Vogel, und diese logische Bewegung unseres Denkens würde nicht eher endigen, als in vollständiger Ueberschauung des ganzen Systems unserer Begriffe, wenn alle dazu nöthigen Verschmelzun- gen vollführt, und die Hemmungen nicht zu stark wä- ren. -- Uebrigens wird wohl Niemand fragen, warum nicht, wenn vom Adler die Vorstellungsreihe zum Vogel fortgeht, sie auch dann seitwärts zu den übrigen Thieren übergehe? Denn es ist klar, dass, wenn sie es thut, dann die Vorstellung des Adlers gehemmt wird, und die Reihe als solche abgebrochen ist.
Wie im Anschauen, so fühlen wir uns auch frey im Denken, so fern es gelingt; doch weniger als im An- schauen, weil es seltener gelingt. Gar zu oft schlägt jene doppelte Apperception dergestalt fehl, dass die De- finitionen zu weit oder zu eng werden; selten liegen die qualitativen Continuen für eine vollständige Coordination bereit; dadurch entdecken sich Mängel und Lücken in unserem Vorstellen, derentwegen wir nicht umhin kön- nen, einen Tadel in unsre Selbsterkenntniss aufzunehmen. Dieser Tadel wirkt mehr oder weniger Anstrengung; er weckt einen Anspruch an uns selbst, auf welchen, wenn ihm Genüge geleistet wird, sich ein neuer Begriff von geistiger Freyheit bezieht, der von dem vorigen, der Willkühr im fixiren den Denken oder Anschauen, sehr verschieden ist, weil er schon Selbstbeherrschung in sich schliesst.
Adler. Soll diese falsche Fortschreitung verbessert wer- den, so führt sie auf Divisionen. Angenommen fürs Erste, wir gehen vom Vogel zum Adler: so hat der Adler seinen Platz in einem jener qualitativen Continuen des §. 139.; ist die Verschmelzung der dazu gehörigen Vor- stellungen gehörig zu Stande gekommen, so durchläuft das Vorstellen, gleichsam seitwärts, vom Adler abschwei- fend, die Menge der übrigen Vögel; während der schon bereit liegende, appercipirende Begriff des Vogels sie alle mit sich vereinigt. Dasselbe ereignet sich in dem Verhältnisse des Thiers zum Vogel, und diese logische Bewegung unseres Denkens würde nicht eher endigen, als in vollständiger Ueberschauung des ganzen Systems unserer Begriffe, wenn alle dazu nöthigen Verschmelzun- gen vollführt, und die Hemmungen nicht zu stark wä- ren. — Uebrigens wird wohl Niemand fragen, warum nicht, wenn vom Adler die Vorstellungsreihe zum Vogel fortgeht, sie auch dann seitwärts zu den übrigen Thieren übergehe? Denn es ist klar, daſs, wenn sie es thut, dann die Vorstellung des Adlers gehemmt wird, und die Reihe als solche abgebrochen ist.
Wie im Anschauen, so fühlen wir uns auch frey im Denken, so fern es gelingt; doch weniger als im An- schauen, weil es seltener gelingt. Gar zu oft schlägt jene doppelte Apperception dergestalt fehl, daſs die De- finitionen zu weit oder zu eng werden; selten liegen die qualitativen Continuen für eine vollständige Coordination bereit; dadurch entdecken sich Mängel und Lücken in unserem Vorstellen, derentwegen wir nicht umhin kön- nen, einen Tadel in unsre Selbsterkenntniſs aufzunehmen. Dieser Tadel wirkt mehr oder weniger Anstrengung; er weckt einen Anspruch an uns selbst, auf welchen, wenn ihm Genüge geleistet wird, sich ein neuer Begriff von geistiger Freyheit bezieht, der von dem vorigen, der Willkühr im fixiren den Denken oder Anschauen, sehr verschieden ist, weil er schon Selbstbeherrschung in sich schlieſst.
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Adler. Soll diese falsche Fortschreitung verbessert wer-
den, so führt sie auf Divisionen. Angenommen fürs
Erste, wir gehen vom Vogel zum Adler: so hat der Adler
seinen Platz in einem jener qualitativen Continuen des
§. 139.; ist die Verschmelzung der dazu gehörigen Vor-
stellungen gehörig zu Stande gekommen, so durchläuft
das Vorstellen, gleichsam seitwärts, vom Adler abschwei-
fend, die Menge der übrigen Vögel; während der schon
bereit liegende, appercipirende Begriff des Vogels sie
alle mit sich vereinigt. Dasselbe ereignet sich in dem
Verhältnisse des Thiers zum Vogel, und diese logische
Bewegung unseres Denkens würde nicht eher endigen,
als in vollständiger Ueberschauung des ganzen Systems
unserer Begriffe, wenn alle dazu nöthigen Verschmelzun-
gen vollführt, und die Hemmungen nicht zu stark wä-
ren. — Uebrigens wird wohl Niemand fragen, warum
nicht, wenn vom Adler die Vorstellungsreihe zum Vogel
fortgeht, sie auch dann seitwärts zu den übrigen Thieren
übergehe? Denn es ist klar, daſs, wenn sie es thut,
dann die Vorstellung des Adlers gehemmt wird, und die
Reihe als solche abgebrochen ist.
Wie im Anschauen, so fühlen wir uns auch frey
im Denken, so fern es gelingt; doch weniger als im An-
schauen, weil es seltener gelingt. Gar zu oft schlägt
jene doppelte Apperception dergestalt fehl, daſs die De-
finitionen zu weit oder zu eng werden; selten liegen die
qualitativen Continuen für eine vollständige Coordination
bereit; dadurch entdecken sich Mängel und Lücken in
unserem Vorstellen, derentwegen wir nicht umhin kön-
nen, einen Tadel in unsre Selbsterkenntniſs aufzunehmen.
Dieser Tadel wirkt mehr oder weniger Anstrengung;
er weckt einen Anspruch an uns selbst, auf welchen,
wenn ihm Genüge geleistet wird, sich ein neuer Begriff
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/407>, abgerufen am 25.11.2024.
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