Lauf unserer Vorstellungen verlässt den Gegenstand und kehrt zu ihm zurück, ohne irgend an ihn gebunden zu seyn. Allein bey dieser Freyheit ist schon stark auf die willkührlichen Bewegungen unseres Leibes gerechnet, wä- ren es auch nur Beugungen des Kopfs, oder ein Schlie- ssen der Augenglieder. Sonst kann es auch begegnen, dass der Gegenstand uns stört, wenn wir seiner Auffas- sung nicht ausweichen können; oder auch, wir sind in Hinsicht seiner gebunden, wenn wir uns von ihm ange- zogen fühlen; ja selbst wenn es nicht mehr gelingt, die Thätigkeit des Anschauens fortzusetzen, weil wir dazu nicht mehr aufgelegt sind.
Das Letztere macht sich besonders lästig beym ab- sichtlichen Memoriren; einer Thätigkeit, die sich aus vielen Anschauungen zusammensetzt, und aus ihnen, mit Hülfe der Wiederhohlung, eine Reihe bildet. Hier muss vor allem jedes einzelne Glied der Reihe nicht bloss auf- gefasst, sondern appercipirt werden. Also sollte eigent- lich der Gang unserer eigenen Vorstellungen von selbst mit der Folge der Gegenstände correspondiren, damit in jedem Augenblick unser eigner Geist gerade den Stoff darböte, welchen das Gegebene formen könnte. Dies ist nun genau genommen nicht möglich, immer geschieht dem natürlichen Flusse unserer Vorstellungen einige Ge- walt, indem sie dem Reize nachgeben müssen, welchen das Gegebene ausübt. Keine, selbst veraltete, Spur des Eigensinns, darf in dem Kopfe des Menschen seyn, der leicht memoriren soll. Es versteht sich, dass alle phy- siologischen Gründe, welche irgendwie der Biegsamkeit unserer Vorstellungsreihen nachtheilig sind, auch dem Gedächtnisse Eintrag thun; und überdies setzt allemal das Memoriren schon eine Menge gleichartiger, mannig- faltig combinirter Vorstellungen voraus. Dass andre Schwie- rigkeiten bey der Reproduction des Memorirten eintreten können, die von denen des Memorirens zu unterscheiden sind, kann hier nur im Vorbeygehn bemerkt werden.
II. A a
Lauf unserer Vorstellungen verläſst den Gegenstand und kehrt zu ihm zurück, ohne irgend an ihn gebunden zu seyn. Allein bey dieser Freyheit ist schon stark auf die willkührlichen Bewegungen unseres Leibes gerechnet, wä- ren es auch nur Beugungen des Kopfs, oder ein Schlie- ſsen der Augenglieder. Sonst kann es auch begegnen, daſs der Gegenstand uns stört, wenn wir seiner Auffas- sung nicht ausweichen können; oder auch, wir sind in Hinsicht seiner gebunden, wenn wir uns von ihm ange- zogen fühlen; ja selbst wenn es nicht mehr gelingt, die Thätigkeit des Anschauens fortzusetzen, weil wir dazu nicht mehr aufgelegt sind.
Das Letztere macht sich besonders lästig beym ab- sichtlichen Memoriren; einer Thätigkeit, die sich aus vielen Anschauungen zusammensetzt, und aus ihnen, mit Hülfe der Wiederhohlung, eine Reihe bildet. Hier muſs vor allem jedes einzelne Glied der Reihe nicht bloſs auf- gefaſst, sondern appercipirt werden. Also sollte eigent- lich der Gang unserer eigenen Vorstellungen von selbst mit der Folge der Gegenstände correspondiren, damit in jedem Augenblick unser eigner Geist gerade den Stoff darböte, welchen das Gegebene formen könnte. Dies ist nun genau genommen nicht möglich, immer geschieht dem natürlichen Flusse unserer Vorstellungen einige Ge- walt, indem sie dem Reize nachgeben müssen, welchen das Gegebene ausübt. Keine, selbst veraltete, Spur des Eigensinns, darf in dem Kopfe des Menschen seyn, der leicht memoriren soll. Es versteht sich, daſs alle phy- siologischen Gründe, welche irgendwie der Biegsamkeit unserer Vorstellungsreihen nachtheilig sind, auch dem Gedächtnisse Eintrag thun; und überdies setzt allemal das Memoriren schon eine Menge gleichartiger, mannig- faltig combinirter Vorstellungen voraus. Daſs andre Schwie- rigkeiten bey der Reproduction des Memorirten eintreten können, die von denen des Memorirens zu unterscheiden sind, kann hier nur im Vorbeygehn bemerkt werden.
II. A a
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Lauf unserer Vorstellungen verläſst den Gegenstand und
kehrt zu ihm zurück, ohne irgend an ihn gebunden zu
seyn. Allein bey dieser Freyheit ist schon stark auf die
willkührlichen Bewegungen unseres Leibes gerechnet, wä-
ren es auch nur Beugungen des Kopfs, oder ein Schlie-
ſsen der Augenglieder. Sonst kann es auch begegnen,
daſs der Gegenstand uns stört, wenn wir seiner Auffas-
sung nicht ausweichen können; oder auch, wir sind in
Hinsicht seiner gebunden, wenn wir uns von ihm ange-
zogen fühlen; ja selbst wenn es nicht mehr gelingt, die
Thätigkeit des Anschauens fortzusetzen, weil wir dazu
nicht mehr aufgelegt sind.
Das Letztere macht sich besonders lästig beym ab-
sichtlichen Memoriren; einer Thätigkeit, die sich aus
vielen Anschauungen zusammensetzt, und aus ihnen, mit
Hülfe der Wiederhohlung, eine Reihe bildet. Hier muſs
vor allem jedes einzelne Glied der Reihe nicht bloſs auf-
gefaſst, sondern appercipirt werden. Also sollte eigent-
lich der Gang unserer eigenen Vorstellungen von selbst
mit der Folge der Gegenstände correspondiren, damit in
jedem Augenblick unser eigner Geist gerade den Stoff
darböte, welchen das Gegebene formen könnte. Dies ist
nun genau genommen nicht möglich, immer geschieht
dem natürlichen Flusse unserer Vorstellungen einige Ge-
walt, indem sie dem Reize nachgeben müssen, welchen
das Gegebene ausübt. Keine, selbst veraltete, Spur des
Eigensinns, darf in dem Kopfe des Menschen seyn, der
leicht memoriren soll. Es versteht sich, daſs alle phy-
siologischen Gründe, welche irgendwie der Biegsamkeit
unserer Vorstellungsreihen nachtheilig sind, auch dem
Gedächtnisse Eintrag thun; und überdies setzt allemal
das Memoriren schon eine Menge gleichartiger, mannig-
faltig combinirter Vorstellungen voraus. Daſs andre Schwie-
rigkeiten bey der Reproduction des Memorirten eintreten
können, die von denen des Memorirens zu unterscheiden
sind, kann hier nur im Vorbeygehn bemerkt werden.
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/404>, abgerufen am 22.11.2024.
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