Complexionen von Merkmalen für wahre und reale Ein- heiten gelten; dass die Veränderung einer Ursache zuge- schrieben wird, ohne irgend eine Auskunft über die Mög- lichkeit des Wirkens; dass der Raum das Reale in sich nehmen muss, ohne Frage, ob diese Begriffe zusammen- passen oder nicht; dass die Zeit, in Ermanglung einer ursprünglich bestimmten Auffassung, nach Bewegungen gemessen wird, welche den Begriff der Zeit mit einer versteckt liegenden Ungereimtheit belasten. Alle diese Verkehrtheiten sind also zwar keine qualitas occulta, keine angeborne Erbsünde der Vernunft, aber wohl eine erklärbare Erbsünde aller Erfahrung. Sie sind ein noth- wendiger Durchgang für das Denken, welches, um zur Wissenschaft zu gelangen, vergeblich ei- nen leichtern und geraderen Weg suchen würde. Widersprechende Begriffe geben den Stoff zur Metaphy- sik; und ohne Metaphysik kann die Erfahrung nicht von Widersprüchen befreyt werden.
Dieses zwar muss Jedem ohne Psychologie, durch die blosse Analyse der erwähnten Begriffe, klar seyn, ehe er auf Metaphysik sich einlässt. Solche Klarheit ist der wichtigste Gewinn, der durch die Einleitung in die Phi- losophie soll erreicht werden.
Aber es schien nöthig, auch an dem gegenwärtigen Orte diesen Punct hervorzuheben, damit offenbar werde, wie gross der Misgriff ist, mit welchem die sämmtlichen Versuche der Vernunftkritik anheben. Sie wollen vor unsern Augen jede falsche Metaphysik aus ihrem Keime entstehen lassen. Dadurch sollen wir vor ähnlichen Irr- thümern gewarnt werden. Sie wollen die Grundbegriffe des Denkens in ihrem Ursprunge zeigen. Dadurch soll sich die wahre Bedeutung dieser Begriffe von jedem fal- schen Zusatze abscheiden. Glänzende Versprechungen ohne allen Gehalt! Wir sehen jetzt den Ursprung der falschen Metaphysik. Er besteht darin, dass man die Grundbegriffe der Erfahrung gerade so lässt, und für gut annimmt, wie sie der psychologische Mechanismus zuerst
Complexionen von Merkmalen für wahre und reale Ein- heiten gelten; daſs die Veränderung einer Ursache zuge- schrieben wird, ohne irgend eine Auskunft über die Mög- lichkeit des Wirkens; daſs der Raum das Reale in sich nehmen muſs, ohne Frage, ob diese Begriffe zusammen- passen oder nicht; daſs die Zeit, in Ermanglung einer ursprünglich bestimmten Auffassung, nach Bewegungen gemessen wird, welche den Begriff der Zeit mit einer versteckt liegenden Ungereimtheit belasten. Alle diese Verkehrtheiten sind also zwar keine qualitas occulta, keine angeborne Erbsünde der Vernunft, aber wohl eine erklärbare Erbsünde aller Erfahrung. Sie sind ein noth- wendiger Durchgang für das Denken, welches, um zur Wissenschaft zu gelangen, vergeblich ei- nen leichtern und geraderen Weg suchen würde. Widersprechende Begriffe geben den Stoff zur Metaphy- sik; und ohne Metaphysik kann die Erfahrung nicht von Widersprüchen befreyt werden.
Dieses zwar muſs Jedem ohne Psychologie, durch die bloſse Analyse der erwähnten Begriffe, klar seyn, ehe er auf Metaphysik sich einläſst. Solche Klarheit ist der wichtigste Gewinn, der durch die Einleitung in die Phi- losophie soll erreicht werden.
Aber es schien nöthig, auch an dem gegenwärtigen Orte diesen Punct hervorzuheben, damit offenbar werde, wie groſs der Misgriff ist, mit welchem die sämmtlichen Versuche der Vernunftkritik anheben. Sie wollen vor unsern Augen jede falsche Metaphysik aus ihrem Keime entstehen lassen. Dadurch sollen wir vor ähnlichen Irr- thümern gewarnt werden. Sie wollen die Grundbegriffe des Denkens in ihrem Ursprunge zeigen. Dadurch soll sich die wahre Bedeutung dieser Begriffe von jedem fal- schen Zusatze abscheiden. Glänzende Versprechungen ohne allen Gehalt! Wir sehen jetzt den Ursprung der falschen Metaphysik. Er besteht darin, daſs man die Grundbegriffe der Erfahrung gerade so läſst, und für gut annimmt, wie sie der psychologische Mechanismus zuerst
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0396"n="361"/>
Complexionen von Merkmalen für wahre und reale Ein-<lb/>
heiten gelten; daſs die Veränderung einer Ursache zuge-<lb/>
schrieben wird, ohne irgend eine Auskunft über die Mög-<lb/>
lichkeit des Wirkens; daſs der Raum das Reale in sich<lb/>
nehmen muſs, ohne Frage, ob diese Begriffe zusammen-<lb/>
passen oder nicht; daſs die Zeit, in Ermanglung einer<lb/>
ursprünglich bestimmten Auffassung, nach Bewegungen<lb/>
gemessen wird, welche den Begriff der Zeit mit einer<lb/>
versteckt liegenden Ungereimtheit belasten. Alle diese<lb/>
Verkehrtheiten sind also zwar keine <hirendition="#i">qualitas occulta</hi>,<lb/>
keine angeborne Erbsünde der Vernunft, aber wohl eine<lb/>
erklärbare Erbsünde aller Erfahrung. Sie sind ein noth-<lb/>
wendiger Durchgang <hirendition="#g">für das Denken, welches, um<lb/>
zur Wissenschaft zu gelangen, vergeblich ei-<lb/>
nen leichtern und geraderen Weg suchen würde</hi>.<lb/>
Widersprechende Begriffe geben den Stoff zur Metaphy-<lb/>
sik; und ohne Metaphysik kann die Erfahrung nicht von<lb/>
Widersprüchen befreyt werden.</p><lb/><p>Dieses zwar muſs Jedem ohne Psychologie, durch<lb/>
die bloſse Analyse der erwähnten Begriffe, klar seyn, ehe<lb/>
er auf Metaphysik sich einläſst. Solche Klarheit ist der<lb/>
wichtigste Gewinn, der durch die Einleitung in die Phi-<lb/>
losophie soll erreicht werden.</p><lb/><p>Aber es schien nöthig, auch an dem gegenwärtigen<lb/>
Orte diesen Punct hervorzuheben, damit offenbar werde,<lb/>
wie groſs der Misgriff ist, mit welchem die sämmtlichen<lb/>
Versuche der Vernunftkritik anheben. Sie wollen vor<lb/>
unsern Augen jede falsche Metaphysik aus ihrem Keime<lb/>
entstehen lassen. Dadurch sollen wir vor ähnlichen Irr-<lb/>
thümern gewarnt werden. Sie wollen die Grundbegriffe<lb/>
des Denkens in ihrem Ursprunge zeigen. Dadurch soll<lb/>
sich die wahre Bedeutung dieser Begriffe von jedem fal-<lb/>
schen Zusatze abscheiden. Glänzende Versprechungen<lb/>
ohne allen Gehalt! Wir sehen jetzt den Ursprung der<lb/>
falschen Metaphysik. Er besteht darin, daſs man die<lb/>
Grundbegriffe der Erfahrung gerade so läſst, und für gut<lb/>
annimmt, wie sie der psychologische Mechanismus zuerst<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[361/0396]
Complexionen von Merkmalen für wahre und reale Ein-
heiten gelten; daſs die Veränderung einer Ursache zuge-
schrieben wird, ohne irgend eine Auskunft über die Mög-
lichkeit des Wirkens; daſs der Raum das Reale in sich
nehmen muſs, ohne Frage, ob diese Begriffe zusammen-
passen oder nicht; daſs die Zeit, in Ermanglung einer
ursprünglich bestimmten Auffassung, nach Bewegungen
gemessen wird, welche den Begriff der Zeit mit einer
versteckt liegenden Ungereimtheit belasten. Alle diese
Verkehrtheiten sind also zwar keine qualitas occulta,
keine angeborne Erbsünde der Vernunft, aber wohl eine
erklärbare Erbsünde aller Erfahrung. Sie sind ein noth-
wendiger Durchgang für das Denken, welches, um
zur Wissenschaft zu gelangen, vergeblich ei-
nen leichtern und geraderen Weg suchen würde.
Widersprechende Begriffe geben den Stoff zur Metaphy-
sik; und ohne Metaphysik kann die Erfahrung nicht von
Widersprüchen befreyt werden.
Dieses zwar muſs Jedem ohne Psychologie, durch
die bloſse Analyse der erwähnten Begriffe, klar seyn, ehe
er auf Metaphysik sich einläſst. Solche Klarheit ist der
wichtigste Gewinn, der durch die Einleitung in die Phi-
losophie soll erreicht werden.
Aber es schien nöthig, auch an dem gegenwärtigen
Orte diesen Punct hervorzuheben, damit offenbar werde,
wie groſs der Misgriff ist, mit welchem die sämmtlichen
Versuche der Vernunftkritik anheben. Sie wollen vor
unsern Augen jede falsche Metaphysik aus ihrem Keime
entstehen lassen. Dadurch sollen wir vor ähnlichen Irr-
thümern gewarnt werden. Sie wollen die Grundbegriffe
des Denkens in ihrem Ursprunge zeigen. Dadurch soll
sich die wahre Bedeutung dieser Begriffe von jedem fal-
schen Zusatze abscheiden. Glänzende Versprechungen
ohne allen Gehalt! Wir sehen jetzt den Ursprung der
falschen Metaphysik. Er besteht darin, daſs man die
Grundbegriffe der Erfahrung gerade so läſst, und für gut
annimmt, wie sie der psychologische Mechanismus zuerst
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/396>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.