findet sich in gar keinem Hemmungsverhältnisse mit der gestrigen gleichartigen, und daher würden sie vollkom- men verschmelzen, wenn nur die gestrige sich heute ganz ins Bewusstseyn erheben könnte. Dieser Mangel wird jedoch nicht gefühlt, denn was im Bewusstseyn nicht vor- handen ist, und zwar nach Gesetzen der Statik, das bestimmt keine Zustände des Bewusstseyns; wie aus allem obigen bekannt ist. Die beyden Vorstellungen verschmel- zen also ohne fühlbares Hinderniss; wir aber merken nichts von einem solchen Ereigniss, denn wir sind, eben durch die verschmelzenden Vorstellungen, beschäfftigt mit dem Gegenstande, den sie beyde zusammengenom- men darstellen. Nur indem wir uns an den Unterschied zwischen gestern und heute erinnern, fällt es uns ein, den nämlichen Gegenstand als einen heute und gestern wahrgenommenen, dennoch aber als denselben in beyden Zeitpuncten zu bezeichnen.
Nicht weit hievon verschieden ist das Ereigniss, wenn jene Complexion, die das eigne Selbst anzeigt, von ih- ren zahlreichen Armen ein paar, oder auch mehrere, zu- gleich ausstreckt, die, wenn sie ins Bewusstseyn kommen, zusammenfallen, und eine und dieselbe Complexion von zwey verschiedenen Seiten mit sich emporheben. Ist ei- ner dieser Arme diejenige Vorstellungsreihe, wodurch die eigenen Bilder, und deren Wechsel, das Sprechen-Wol- len, oder das Denken, und Wissen, vorgestellt wird; so mag der andre Arm seyn was er will: es wird sich in den allermeisten Fällen finden, dass unter den Gegen- ständen jenes Denkens und Wissens auch ein Bild von dem andern Arme vorkommt. Hiemit haben wir einen Act des Selbstbewusstseyns; ein Wissen und ein zuge- höriges Gewusstes in der nämlichen Complexion; eine scheinbare Identität des Denkenden und Gedachten. Gleichwohl sind jene beyden Arme der Complexion zwey unter sich verschiedene Vorstellungsreihen, die nur als Abbild und Urbild einander entsprechen, und die beyde vermöge ihrer Verbindung mit den übrigen Theilen der
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findet sich in gar keinem Hemmungsverhältnisse mit der gestrigen gleichartigen, und daher würden sie vollkom- men verschmelzen, wenn nur die gestrige sich heute ganz ins Bewuſstseyn erheben könnte. Dieser Mangel wird jedoch nicht gefühlt, denn was im Bewuſstseyn nicht vor- handen ist, und zwar nach Gesetzen der Statik, das bestimmt keine Zustände des Bewuſstseyns; wie aus allem obigen bekannt ist. Die beyden Vorstellungen verschmel- zen also ohne fühlbares Hinderniſs; wir aber merken nichts von einem solchen Ereigniſs, denn wir sind, eben durch die verschmelzenden Vorstellungen, beschäfftigt mit dem Gegenstande, den sie beyde zusammengenom- men darstellen. Nur indem wir uns an den Unterschied zwischen gestern und heute erinnern, fällt es uns ein, den nämlichen Gegenstand als einen heute und gestern wahrgenommenen, dennoch aber als denselben in beyden Zeitpuncten zu bezeichnen.
Nicht weit hievon verschieden ist das Ereigniſs, wenn jene Complexion, die das eigne Selbst anzeigt, von ih- ren zahlreichen Armen ein paar, oder auch mehrere, zu- gleich ausstreckt, die, wenn sie ins Bewuſstseyn kommen, zusammenfallen, und eine und dieselbe Complexion von zwey verschiedenen Seiten mit sich emporheben. Ist ei- ner dieser Arme diejenige Vorstellungsreihe, wodurch die eigenen Bilder, und deren Wechsel, das Sprechen-Wol- len, oder das Denken, und Wissen, vorgestellt wird; so mag der andre Arm seyn was er will: es wird sich in den allermeisten Fällen finden, daſs unter den Gegen- ständen jenes Denkens und Wissens auch ein Bild von dem andern Arme vorkommt. Hiemit haben wir einen Act des Selbstbewuſstseyns; ein Wissen und ein zuge- höriges Gewuſstes in der nämlichen Complexion; eine scheinbare Identität des Denkenden und Gedachten. Gleichwohl sind jene beyden Arme der Complexion zwey unter sich verschiedene Vorstellungsreihen, die nur als Abbild und Urbild einander entsprechen, und die beyde vermöge ihrer Verbindung mit den übrigen Theilen der
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findet sich in gar keinem Hemmungsverhältnisse mit der
gestrigen gleichartigen, und daher würden sie vollkom-
men verschmelzen, wenn nur die gestrige sich heute ganz
ins Bewuſstseyn erheben könnte. Dieser Mangel wird
jedoch nicht gefühlt, denn was im Bewuſstseyn nicht vor-
handen ist, und zwar nach Gesetzen der Statik, das
bestimmt keine Zustände des Bewuſstseyns; wie aus allem
obigen bekannt ist. Die beyden Vorstellungen verschmel-
zen also ohne fühlbares Hinderniſs; wir aber merken
nichts von einem solchen Ereigniſs, denn wir sind, eben
durch die verschmelzenden Vorstellungen, beschäfftigt
mit dem Gegenstande, den sie beyde zusammengenom-
men darstellen. Nur indem wir uns an den Unterschied
zwischen gestern und heute erinnern, fällt es uns ein,
den nämlichen Gegenstand als einen heute und gestern
wahrgenommenen, dennoch aber als denselben in beyden
Zeitpuncten zu bezeichnen.
Nicht weit hievon verschieden ist das Ereigniſs, wenn
jene Complexion, die das eigne Selbst anzeigt, von ih-
ren zahlreichen Armen ein paar, oder auch mehrere, zu-
gleich ausstreckt, die, wenn sie ins Bewuſstseyn kommen,
zusammenfallen, und eine und dieselbe Complexion von
zwey verschiedenen Seiten mit sich emporheben. Ist ei-
ner dieser Arme diejenige Vorstellungsreihe, wodurch die
eigenen Bilder, und deren Wechsel, das Sprechen-Wol-
len, oder das Denken, und Wissen, vorgestellt wird; so
mag der andre Arm seyn was er will: es wird sich in
den allermeisten Fällen finden, daſs unter den Gegen-
ständen jenes Denkens und Wissens auch ein Bild von
dem andern Arme vorkommt. Hiemit haben wir einen
Act des Selbstbewuſstseyns; ein Wissen und ein zuge-
höriges Gewuſstes in der nämlichen Complexion; eine
scheinbare Identität des Denkenden und Gedachten.
Gleichwohl sind jene beyden Arme der Complexion zwey
unter sich verschiedene Vorstellungsreihen, die nur als
Abbild und Urbild einander entsprechen, und die beyde
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/326>, abgerufen am 22.11.2024.
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