Gesprächs, dass es beym Abwesenden und Ver- gangenen verweilen macht (§. 130.), so sehen wir hierin erstlich das Mittel, wodurch der Mensch sich die Vor- stellung der Zeit ungleich weiter und vollkommner als das Thier, auszubilden vermag; denn indem er bey ver- schiedenen vergangenen Ereignissen verweilt, entstehn zwischen den Zeitpuncten dieser Ereignisse, Zeitreihen, (§. 115.), deren mehrere aneinandergefügt, eine immer grössere Zeitstrecke ergeben werden, und aus deren To- tal-Vorstellungen sich etwas, einem allgemeinen Begriffe ähnliches, (§. 122.), nämlich eine Vorstellung von einem Laufe der Dinge überhaupt, erzeugen muss, das vermöge der Associationen auf verschiedene Zeitpuncte fortgetra- gen, sowohl in eine frühere Vergangenheit als in die Zukunft hinausreicht. -- Eben so muss auch alles räum- liche Vorstellen sich ausbilden durch das Verweilen beym Abwesenden, durch das Verknüpfen der verschiedenen räumlichen Reproductionen, die von mehrern entlegenen Gegenständen in Gedanken ablaufen. (Vergl. §. 113. 114.)
Durch den letztern Umstand wächst die äussere Welt; es wächst auch ihr Gegensatz gegen die innere; es wächst das Verlangen, immer mehr Bilder von der äussern Welt einzusammeln.
Allein bey weitem wichtiger für die Ausbildung des Selbstbewusstseyns ist jenes Schauen in Vergangenheit und Zukunft. Seine früheren Zustände als frühere, und in diesen Zuständen sein eignes Individuum erblik- kend, findet der Mensch dieses Individuum mit anderen Gefühlen, als mit den jetzt gegenwärtigen; dadurch er- scheinen die jetzigen sowohl als die ehemaligen, zufäl- lig, denn sie erscheinen als wechselnd, indem sie ver- mittelst negativer und positiver Urtheile (§. 123. 124.) für verschiedene Zeiten demselben Individuum sowohl ab- gesprochen als zugesprochen werden. Hiemit wird auch das Ungewisse der zukünftigen Zustände eingesehen, de- nen nun das Individuum selbst als das bleibende entge- gensteht.
S 2
Gesprächs, daſs es beym Abwesenden und Ver- gangenen verweilen macht (§. 130.), so sehen wir hierin erstlich das Mittel, wodurch der Mensch sich die Vor- stellung der Zeit ungleich weiter und vollkommner als das Thier, auszubilden vermag; denn indem er bey ver- schiedenen vergangenen Ereignissen verweilt, entstehn zwischen den Zeitpuncten dieser Ereignisse, Zeitreihen, (§. 115.), deren mehrere aneinandergefügt, eine immer gröſsere Zeitstrecke ergeben werden, und aus deren To- tal-Vorstellungen sich etwas, einem allgemeinen Begriffe ähnliches, (§. 122.), nämlich eine Vorstellung von einem Laufe der Dinge überhaupt, erzeugen muſs, das vermöge der Associationen auf verschiedene Zeitpuncte fortgetra- gen, sowohl in eine frühere Vergangenheit als in die Zukunft hinausreicht. — Eben so muſs auch alles räum- liche Vorstellen sich ausbilden durch das Verweilen beym Abwesenden, durch das Verknüpfen der verschiedenen räumlichen Reproductionen, die von mehrern entlegenen Gegenständen in Gedanken ablaufen. (Vergl. §. 113. 114.)
Durch den letztern Umstand wächst die äuſsere Welt; es wächst auch ihr Gegensatz gegen die innere; es wächst das Verlangen, immer mehr Bilder von der äuſsern Welt einzusammeln.
Allein bey weitem wichtiger für die Ausbildung des Selbstbewuſstseyns ist jenes Schauen in Vergangenheit und Zukunft. Seine früheren Zustände als frühere, und in diesen Zuständen sein eignes Individuum erblik- kend, findet der Mensch dieses Individuum mit anderen Gefühlen, als mit den jetzt gegenwärtigen; dadurch er- scheinen die jetzigen sowohl als die ehemaligen, zufäl- lig, denn sie erscheinen als wechselnd, indem sie ver- mittelst negativer und positiver Urtheile (§. 123. 124.) für verschiedene Zeiten demselben Individuum sowohl ab- gesprochen als zugesprochen werden. Hiemit wird auch das Ungewisse der zukünftigen Zustände eingesehen, de- nen nun das Individuum selbst als das bleibende entge- gensteht.
S 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0310"n="275"/><hirendition="#g">Gesprächs</hi>, daſs es beym <hirendition="#g">Abwesenden</hi> und <hirendition="#g">Ver-<lb/>
gangenen</hi> verweilen macht (§. 130.), so sehen wir hierin<lb/>
erstlich das Mittel, wodurch der Mensch sich die Vor-<lb/>
stellung der Zeit ungleich weiter und vollkommner als<lb/>
das Thier, auszubilden vermag; denn indem er bey ver-<lb/>
schiedenen vergangenen Ereignissen verweilt, entstehn<lb/>
zwischen den Zeitpuncten dieser Ereignisse, Zeitreihen,<lb/>
(§. 115.), deren mehrere aneinandergefügt, eine immer<lb/>
gröſsere Zeitstrecke ergeben werden, und aus deren To-<lb/>
tal-Vorstellungen sich etwas, einem allgemeinen Begriffe<lb/>
ähnliches, (§. 122.), nämlich eine Vorstellung von einem<lb/>
Laufe der Dinge überhaupt, erzeugen muſs, das vermöge<lb/>
der Associationen auf verschiedene Zeitpuncte fortgetra-<lb/>
gen, sowohl in eine frühere Vergangenheit als in die<lb/>
Zukunft hinausreicht. — Eben so muſs auch alles räum-<lb/>
liche Vorstellen sich ausbilden durch das Verweilen beym<lb/>
Abwesenden, durch das Verknüpfen der verschiedenen<lb/>
räumlichen Reproductionen, die von mehrern entlegenen<lb/>
Gegenständen in Gedanken ablaufen. (Vergl. §. 113. 114.)</p><lb/><p>Durch den letztern Umstand wächst die äuſsere Welt;<lb/>
es wächst auch ihr Gegensatz gegen die innere; es wächst<lb/>
das Verlangen, immer mehr Bilder von der äuſsern Welt<lb/>
einzusammeln.</p><lb/><p>Allein bey weitem wichtiger für die Ausbildung des<lb/>
Selbstbewuſstseyns ist jenes Schauen in Vergangenheit<lb/>
und Zukunft. Seine früheren Zustände <hirendition="#g">als frühere</hi>,<lb/>
und in diesen Zuständen sein eignes Individuum erblik-<lb/>
kend, findet der Mensch dieses Individuum mit anderen<lb/>
Gefühlen, als mit den jetzt gegenwärtigen; dadurch er-<lb/>
scheinen die jetzigen sowohl als die ehemaligen, <hirendition="#g">zufäl-<lb/>
lig</hi>, denn sie erscheinen als <hirendition="#g">wechselnd</hi>, indem sie ver-<lb/>
mittelst negativer und positiver Urtheile (§. 123. 124.)<lb/>
für verschiedene Zeiten demselben Individuum sowohl ab-<lb/>
gesprochen als zugesprochen werden. Hiemit wird auch<lb/>
das Ungewisse der zukünftigen Zustände eingesehen, de-<lb/>
nen nun das Individuum selbst als das bleibende entge-<lb/>
gensteht.</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">S 2</fw><lb/></div></div></div></div></body></text></TEI>
[275/0310]
Gesprächs, daſs es beym Abwesenden und Ver-
gangenen verweilen macht (§. 130.), so sehen wir hierin
erstlich das Mittel, wodurch der Mensch sich die Vor-
stellung der Zeit ungleich weiter und vollkommner als
das Thier, auszubilden vermag; denn indem er bey ver-
schiedenen vergangenen Ereignissen verweilt, entstehn
zwischen den Zeitpuncten dieser Ereignisse, Zeitreihen,
(§. 115.), deren mehrere aneinandergefügt, eine immer
gröſsere Zeitstrecke ergeben werden, und aus deren To-
tal-Vorstellungen sich etwas, einem allgemeinen Begriffe
ähnliches, (§. 122.), nämlich eine Vorstellung von einem
Laufe der Dinge überhaupt, erzeugen muſs, das vermöge
der Associationen auf verschiedene Zeitpuncte fortgetra-
gen, sowohl in eine frühere Vergangenheit als in die
Zukunft hinausreicht. — Eben so muſs auch alles räum-
liche Vorstellen sich ausbilden durch das Verweilen beym
Abwesenden, durch das Verknüpfen der verschiedenen
räumlichen Reproductionen, die von mehrern entlegenen
Gegenständen in Gedanken ablaufen. (Vergl. §. 113. 114.)
Durch den letztern Umstand wächst die äuſsere Welt;
es wächst auch ihr Gegensatz gegen die innere; es wächst
das Verlangen, immer mehr Bilder von der äuſsern Welt
einzusammeln.
Allein bey weitem wichtiger für die Ausbildung des
Selbstbewuſstseyns ist jenes Schauen in Vergangenheit
und Zukunft. Seine früheren Zustände als frühere,
und in diesen Zuständen sein eignes Individuum erblik-
kend, findet der Mensch dieses Individuum mit anderen
Gefühlen, als mit den jetzt gegenwärtigen; dadurch er-
scheinen die jetzigen sowohl als die ehemaligen, zufäl-
lig, denn sie erscheinen als wechselnd, indem sie ver-
mittelst negativer und positiver Urtheile (§. 123. 124.)
für verschiedene Zeiten demselben Individuum sowohl ab-
gesprochen als zugesprochen werden. Hiemit wird auch
das Ungewisse der zukünftigen Zustände eingesehen, de-
nen nun das Individuum selbst als das bleibende entge-
gensteht.
S 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/310>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.