kann, sammt allen seinen untergeordneten, sogleich auch für eine solche ursprüngliche Form ausgeben.
Als Kant die Geometrie aus der reinen Anschauung des Raums erklärte, da vergass er die Musik mit ihren synthetischen Sätzen a priori von den Intervallen und Accorden; die er eben so aus der Tonlinie hätte erklä- ren müssen. Als er die dinglichen Kategorien aufstellte, da vergass er die sämmtlichen Begriffe des innern Ge- schehens, gleich als ob sein an Kategorien gebundener Verstand nicht nöthig hätte, sich von dem, was in uns vorgeht, Begriffe zu bilden. Hatte denn von allen sei- nen zahlreichen Nachfolgern keiner eine hinlängliche Ver- anlassung, diese Lücke wahrzunehmen? Oder wer hat sie wahrgenommen?
Wann eine Farbe in der Empfindung gegeben wird: dann ist vor ihrem Eintreten irgend ein inneres Vor- gestelltes dem Bewusstseyn gegenwärtig. Wird dieses nicht zu heftig gehemmt: so verschmilzt es mit der Em- pfindung, und es entsteht eine Reihe von wenigstens zweyen Gliedern. Wird späterhin dieselbe Farbe noch- mals gegeben; so reproducirt sich nicht bloss die ältere Vorstellung der Farbe, sondern auch das vorhergehende Glied, und zwar als ein Vorhergehendes; es reproducirt sich ein Uebergehen, und die Farbe wird als eintre- tend nach etwas Anderem, vorgestellt. -- Unzählige Vorstellungen solches Eintretens verschmelzen; und ge- ben den Gesammt-Eindruck, aus welchem der Begriff des Sehens, das heisst zunächst, des Erscheinens der Farbe, sich späterhin bildet. Eben so das Erscheinen des Tones, das Eintreten des Gefühls, und so ferner.
Diese Betrachtung reicht weiter. Wer des Andern Stimme hört, weiss hiemit und hiedurch, dass derselbe in der Nähe ist; und allgemein: durch das Zeichen er- fährt man die Sache. Wenn nämlich die Empfindung einen Theil einer Complexion oder Reihe schon früher ausmachte, so ist ihr erneuertes Erscheinen zugleich das Erscheinen, das Eintreten des mit ihr Verbundenen. --
kann, sammt allen seinen untergeordneten, sogleich auch für eine solche ursprüngliche Form ausgeben.
Als Kant die Geometrie aus der reinen Anschauung des Raums erklärte, da vergaſs er die Musik mit ihren synthetischen Sätzen a priori von den Intervallen und Accorden; die er eben so aus der Tonlinie hätte erklä- ren müssen. Als er die dinglichen Kategorien aufstellte, da vergaſs er die sämmtlichen Begriffe des innern Ge- schehens, gleich als ob sein an Kategorien gebundener Verstand nicht nöthig hätte, sich von dem, was in uns vorgeht, Begriffe zu bilden. Hatte denn von allen sei- nen zahlreichen Nachfolgern keiner eine hinlängliche Ver- anlassung, diese Lücke wahrzunehmen? Oder wer hat sie wahrgenommen?
Wann eine Farbe in der Empfindung gegeben wird: dann ist vor ihrem Eintreten irgend ein inneres Vor- gestelltes dem Bewuſstseyn gegenwärtig. Wird dieses nicht zu heftig gehemmt: so verschmilzt es mit der Em- pfindung, und es entsteht eine Reihe von wenigstens zweyen Gliedern. Wird späterhin dieselbe Farbe noch- mals gegeben; so reproducirt sich nicht bloſs die ältere Vorstellung der Farbe, sondern auch das vorhergehende Glied, und zwar als ein Vorhergehendes; es reproducirt sich ein Uebergehen, und die Farbe wird als eintre- tend nach etwas Anderem, vorgestellt. — Unzählige Vorstellungen solches Eintretens verschmelzen; und ge- ben den Gesammt-Eindruck, aus welchem der Begriff des Sehens, das heiſst zunächst, des Erscheinens der Farbe, sich späterhin bildet. Eben so das Erscheinen des Tones, das Eintreten des Gefühls, und so ferner.
Diese Betrachtung reicht weiter. Wer des Andern Stimme hört, weiſs hiemit und hiedurch, daſs derselbe in der Nähe ist; und allgemein: durch das Zeichen er- fährt man die Sache. Wenn nämlich die Empfindung einen Theil einer Complexion oder Reihe schon früher ausmachte, so ist ihr erneuertes Erscheinen zugleich das Erscheinen, das Eintreten des mit ihr Verbundenen. —
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kann, sammt allen seinen untergeordneten, sogleich auch
für eine solche ursprüngliche Form ausgeben.
Als Kant die Geometrie aus der reinen Anschauung
des Raums erklärte, da vergaſs er die Musik mit ihren
synthetischen Sätzen a priori von den Intervallen und
Accorden; die er eben so aus der Tonlinie hätte erklä-
ren müssen. Als er die dinglichen Kategorien aufstellte,
da vergaſs er die sämmtlichen Begriffe des innern Ge-
schehens, gleich als ob sein an Kategorien gebundener
Verstand nicht nöthig hätte, sich von dem, was in uns
vorgeht, Begriffe zu bilden. Hatte denn von allen sei-
nen zahlreichen Nachfolgern keiner eine hinlängliche Ver-
anlassung, diese Lücke wahrzunehmen? Oder wer hat
sie wahrgenommen?
Wann eine Farbe in der Empfindung gegeben wird:
dann ist vor ihrem Eintreten irgend ein inneres Vor-
gestelltes dem Bewuſstseyn gegenwärtig. Wird dieses
nicht zu heftig gehemmt: so verschmilzt es mit der Em-
pfindung, und es entsteht eine Reihe von wenigstens
zweyen Gliedern. Wird späterhin dieselbe Farbe noch-
mals gegeben; so reproducirt sich nicht bloſs die ältere
Vorstellung der Farbe, sondern auch das vorhergehende
Glied, und zwar als ein Vorhergehendes; es reproducirt
sich ein Uebergehen, und die Farbe wird als eintre-
tend nach etwas Anderem, vorgestellt. — Unzählige
Vorstellungen solches Eintretens verschmelzen; und ge-
ben den Gesammt-Eindruck, aus welchem der Begriff
des Sehens, das heiſst zunächst, des Erscheinens der
Farbe, sich späterhin bildet. Eben so das Erscheinen
des Tones, das Eintreten des Gefühls, und so ferner.
Diese Betrachtung reicht weiter. Wer des Andern
Stimme hört, weiſs hiemit und hiedurch, daſs derselbe
in der Nähe ist; und allgemein: durch das Zeichen er-
fährt man die Sache. Wenn nämlich die Empfindung
einen Theil einer Complexion oder Reihe schon früher
ausmachte, so ist ihr erneuertes Erscheinen zugleich das
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/288>, abgerufen am 25.11.2024.
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