Orte noch nicht deutlich entwickeln was dabey vorgehe; vielmehr gehört der Gegenstand zum Theil in das fol- gende Capitel.
Wie äusserst folgenreich aber die Verweilung bey dem Abwesenden und Vergangenen, wovon gespro- chen wird, ausfallen müsse, dies ist nicht schwer einzu- sehn. Dadurch wird die Last der unmittelbaren sinnli- chen Gegenwart, welche ohne Zweifel das Thier fort- dauernd drückt, hinweggehoben; dadurch werden die älte- ren Vorstellungen in sehr viele neue Verbindungen ge- bracht, und eben durch diese Verbindungen in ungleich stärkere Totalkräfte umgewandelt. Man erinnere sich hiebey der Grundsätze über Verschmelzungen und Com- plicationen; und auch des Umstandes, dass zugleich stei- gende Vorstellungen inniger verschmelzen, als zugleich sinkende; (§. 93.). Dieses nun ist ohne Zweifel die we- sentlichste Grundlage der eigentlich menschlichen Ausbil- dung, dass es für den Menschen eine innere Welt giebt, die, wenn sie gleich Anfangs selbst nur äussere Dinge vorstellt, doch dem eben jetzt sinnlich Gegen- wärtigen widersteht; so dass der Mensch aus dem Strome der Zeit einen Fuss herauszusetzen, und den Augenblick zu vergessen vermag, dessen Eindrücke sonst nur abge- rissene Reminiscenzen aus der Vergangenheit zugelassen, aber eben durch das Abreissen die Vergangenheit selbst zerstört haben würden.
Oder giebt es für das Thier eine Vergangenheit? Kann es die jetzige Zeit unbemerkt fliessen lassen, um sich in der früheren einen Standpunct zu wählen, von wo es vorwärts und rückwärts schaue? -- Besässe das Thier eine Vergangenheit, so hätte es auch eine Zukunft. Denn es ist leicht zu sehen, dass nur die einmal gebil- dete Vorstellung von einer längern Zeitstrecke, auf ver- schiedene Zeitpuncte als auf Anfangspuncte darf übertra- gen werden, um auch über den gegenwärtigen fortgescho- ben, die Aussicht in die Zukunft, mit allen ihren Erwar-
Orte noch nicht deutlich entwickeln was dabey vorgehe; vielmehr gehört der Gegenstand zum Theil in das fol- gende Capitel.
Wie äuſserst folgenreich aber die Verweilung bey dem Abwesenden und Vergangenen, wovon gespro- chen wird, ausfallen müsse, dies ist nicht schwer einzu- sehn. Dadurch wird die Last der unmittelbaren sinnli- chen Gegenwart, welche ohne Zweifel das Thier fort- dauernd drückt, hinweggehoben; dadurch werden die älte- ren Vorstellungen in sehr viele neue Verbindungen ge- bracht, und eben durch diese Verbindungen in ungleich stärkere Totalkräfte umgewandelt. Man erinnere sich hiebey der Grundsätze über Verschmelzungen und Com- plicationen; und auch des Umstandes, daſs zugleich stei- gende Vorstellungen inniger verschmelzen, als zugleich sinkende; (§. 93.). Dieses nun ist ohne Zweifel die we- sentlichste Grundlage der eigentlich menschlichen Ausbil- dung, daſs es für den Menschen eine innere Welt giebt, die, wenn sie gleich Anfangs selbst nur äuſsere Dinge vorstellt, doch dem eben jetzt sinnlich Gegen- wärtigen widersteht; so daſs der Mensch aus dem Strome der Zeit einen Fuſs herauszusetzen, und den Augenblick zu vergessen vermag, dessen Eindrücke sonst nur abge- rissene Reminiscenzen aus der Vergangenheit zugelassen, aber eben durch das Abreiſsen die Vergangenheit selbst zerstört haben würden.
Oder giebt es für das Thier eine Vergangenheit? Kann es die jetzige Zeit unbemerkt flieſsen lassen, um sich in der früheren einen Standpunct zu wählen, von wo es vorwärts und rückwärts schaue? — Besäſse das Thier eine Vergangenheit, so hätte es auch eine Zukunft. Denn es ist leicht zu sehen, daſs nur die einmal gebil- dete Vorstellung von einer längern Zeitstrecke, auf ver- schiedene Zeitpuncte als auf Anfangspuncte darf übertra- gen werden, um auch über den gegenwärtigen fortgescho- ben, die Aussicht in die Zukunft, mit allen ihren Erwar-
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Orte noch nicht deutlich entwickeln was dabey vorgehe;
vielmehr gehört der Gegenstand zum Theil in das fol-
gende Capitel.
Wie äuſserst folgenreich aber die Verweilung bey
dem Abwesenden und Vergangenen, wovon gespro-
chen wird, ausfallen müsse, dies ist nicht schwer einzu-
sehn. Dadurch wird die Last der unmittelbaren sinnli-
chen Gegenwart, welche ohne Zweifel das Thier fort-
dauernd drückt, hinweggehoben; dadurch werden die älte-
ren Vorstellungen in sehr viele neue Verbindungen ge-
bracht, und eben durch diese Verbindungen in ungleich
stärkere Totalkräfte umgewandelt. Man erinnere sich
hiebey der Grundsätze über Verschmelzungen und Com-
plicationen; und auch des Umstandes, daſs zugleich stei-
gende Vorstellungen inniger verschmelzen, als zugleich
sinkende; (§. 93.). Dieses nun ist ohne Zweifel die we-
sentlichste Grundlage der eigentlich menschlichen Ausbil-
dung, daſs es für den Menschen eine innere Welt
giebt, die, wenn sie gleich Anfangs selbst nur äuſsere
Dinge vorstellt, doch dem eben jetzt sinnlich Gegen-
wärtigen widersteht; so daſs der Mensch aus dem Strome
der Zeit einen Fuſs herauszusetzen, und den Augenblick
zu vergessen vermag, dessen Eindrücke sonst nur abge-
rissene Reminiscenzen aus der Vergangenheit zugelassen,
aber eben durch das Abreiſsen die Vergangenheit selbst
zerstört haben würden.
Oder giebt es für das Thier eine Vergangenheit?
Kann es die jetzige Zeit unbemerkt flieſsen lassen, um
sich in der früheren einen Standpunct zu wählen, von
wo es vorwärts und rückwärts schaue? — Besäſse das
Thier eine Vergangenheit, so hätte es auch eine Zukunft.
Denn es ist leicht zu sehen, daſs nur die einmal gebil-
dete Vorstellung von einer längern Zeitstrecke, auf ver-
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gen werden, um auch über den gegenwärtigen fortgescho-
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/271>, abgerufen am 22.11.2024.
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