die Vorrede des ersten Theils enthielt die Bitte, der Leser wolle sich zurückversetzen in die Pe- riode, da Kant, Reinhold, und Fichte blü- heten; den gegenwärtigen zweyten Theil wird schwerlich Jemand verstehen, ohne diese Bitte zu erfüllen! Insbesondere mit Kant wird man den Verfasser so lebhaft beschäfftigt finden, als ob es noch nie Jemanden hätte einfallen kön- nen, zu behaupten, dass heut zu Tage Kants Schriften wenig mehr gelesen würden, und der jetzigen Generation nur noch obenhin bekannt seyen. Gute Beobachter wollen zwar so etwas bemerkt haben; vielleicht aber ist es noch eben Zeit, sich zu stellen, als ob man davon nichts wüsste. Fortdauernde Beschäfftigung mit den Werken eines grossen Mannes ist die Art von Ehrenbezeugung, die ihm gebührt; jede andre kann er entbehren. Sehr leicht wäre es sonst gewesen, die häufige Polemik gegen Kant, den Worten nach weit mehr zu mildern, als für nö- thig ist erachtet worden; ohne dabey der Auf- richtigkeit im mindesten Abbruch zu thun. Zum Ueberflusse sey indessen hier noch bezeugt, dass, indem der Verfasser während der letzten Ueber- arbeitung dieses Buchs die Kritik der reinen Vernunft von neuem durchlief, die Grösse des mit Recht hochberühmten Werks so deutlich, wie noch niemals zuvor, in den einfachen, wür- devollen Umrissen desselben vor ihn hintrat. Weit mehr, als der Inhalt verlieren konnte, ge- wann die Form. Und selbst die Seelenvermö- gen ertheilten nun dem Ganzen einen ähnlichen Reiz, wie durch einen Mythenkreis das darauf gebauete Epos zu erhalten pflegt. Leser, welche
die Vorrede des ersten Theils enthielt die Bitte, der Leser wolle sich zurückversetzen in die Pe- riode, da Kant, Reinhold, und Fichte blü- heten; den gegenwärtigen zweyten Theil wird schwerlich Jemand verstehen, ohne diese Bitte zu erfüllen! Insbesondere mit Kant wird man den Verfasser so lebhaft beschäfftigt finden, als ob es noch nie Jemanden hätte einfallen kön- nen, zu behaupten, daſs heut zu Tage Kants Schriften wenig mehr gelesen würden, und der jetzigen Generation nur noch obenhin bekannt seyen. Gute Beobachter wollen zwar so etwas bemerkt haben; vielleicht aber ist es noch eben Zeit, sich zu stellen, als ob man davon nichts wüſste. Fortdauernde Beschäfftigung mit den Werken eines groſsen Mannes ist die Art von Ehrenbezeugung, die ihm gebührt; jede andre kann er entbehren. Sehr leicht wäre es sonst gewesen, die häufige Polemik gegen Kant, den Worten nach weit mehr zu mildern, als für nö- thig ist erachtet worden; ohne dabey der Auf- richtigkeit im mindesten Abbruch zu thun. Zum Ueberflusse sey indessen hier noch bezeugt, daſs, indem der Verfasser während der letzten Ueber- arbeitung dieses Buchs die Kritik der reinen Vernunft von neuem durchlief, die Gröſse des mit Recht hochberühmten Werks so deutlich, wie noch niemals zuvor, in den einfachen, wür- devollen Umrissen desselben vor ihn hintrat. Weit mehr, als der Inhalt verlieren konnte, ge- wann die Form. Und selbst die Seelenvermö- gen ertheilten nun dem Ganzen einen ähnlichen Reiz, wie durch einen Mythenkreis das darauf gebauete Epos zu erhalten pflegt. Leser, welche
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[XX/0027]
die Vorrede des ersten Theils enthielt die Bitte,
der Leser wolle sich zurückversetzen in die Pe-
riode, da Kant, Reinhold, und Fichte blü-
heten; den gegenwärtigen zweyten Theil wird
schwerlich Jemand verstehen, ohne diese Bitte
zu erfüllen! Insbesondere mit Kant wird man
den Verfasser so lebhaft beschäfftigt finden, als
ob es noch nie Jemanden hätte einfallen kön-
nen, zu behaupten, daſs heut zu Tage Kants
Schriften wenig mehr gelesen würden, und der
jetzigen Generation nur noch obenhin bekannt
seyen. Gute Beobachter wollen zwar so etwas
bemerkt haben; vielleicht aber ist es noch eben
Zeit, sich zu stellen, als ob man davon nichts
wüſste. Fortdauernde Beschäfftigung mit den
Werken eines groſsen Mannes ist die Art von
Ehrenbezeugung, die ihm gebührt; jede andre
kann er entbehren. Sehr leicht wäre es sonst
gewesen, die häufige Polemik gegen Kant, den
Worten nach weit mehr zu mildern, als für nö-
thig ist erachtet worden; ohne dabey der Auf-
richtigkeit im mindesten Abbruch zu thun. Zum
Ueberflusse sey indessen hier noch bezeugt, daſs,
indem der Verfasser während der letzten Ueber-
arbeitung dieses Buchs die Kritik der reinen
Vernunft von neuem durchlief, die Gröſse des
mit Recht hochberühmten Werks so deutlich,
wie noch niemals zuvor, in den einfachen, wür-
devollen Umrissen desselben vor ihn hintrat.
Weit mehr, als der Inhalt verlieren konnte, ge-
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gen ertheilten nun dem Ganzen einen ähnlichen
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. XX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/27>, abgerufen am 11.12.2024.
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