Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

Bild:
<< vorherige Seite

so liegen in unserm Vorstellen selbst, Unterschiede, ver-
möge deren die Art ihres Eintritts ins Bewusstseyn sich
bald verräth, bald unbemerkt bleibt.

Nämlich so lange die Vorstellungen mit ihren räum-
lichen und zeitlichen Associationen behaftet ins Bewusst-
seyn kommen, verrathen sie sich als reproducirte Wahr-
nehmungen, als Einbildungen. Bringt aber eine Vor-
stellung nichts als sich selbst
: dann bedarf es kei-
ner Abstraction, denn die Thätigkeit ihrer Wiedererhe-
bung ist ohnehin kein Gegenstand des Bewusstseyns. --
Uebrigens gehört die Frage, wie wir es machen, unsre
Vorstellungen zu beobachten, und sie entweder als
Einbildungen, oder als Begriffe anzuerkennen, noch gar
nicht hieher.

Die Hauptfrage aber, worauf die Untersuchung über
den Ursprung der Begriffe zu reduciren ist, lässt sich aus
dem eben Gesagten schon erkennen. Es ist diese: wie
kommen unsre Vorstellungen los von den Com-
plicationen und Verschmelzungen, in welche
sie bey ihrem Entstehen, und bey jedem Wie-
dererwachen unvermeidlich gerathen
?

Offenbar ist diese Frage um so schwerer, je einfa-
cher die Begriffe sind, auf welche man sie anwendet.
Die zusammengesetztern Begriffe sind aus wenigeren
Verbindungen frey geworden, und bilden sich daher leich-
ter und früher.

Die Frage wird in ihrer Wichtigkeit fühlbarer, und
in Verbindung mit einigen Nebenfragen gesetzt werden,
wenn wir die Forderung, dass der Begriff im psycholo-
gischen Sinne den logischen Begriff zu seinem Vorgestell-
ten haben solle, noch näher betrachten.

1) Sehen wir auf den Inhalt eines logischen Begriffs:
so wird derselbe, wofern er nicht einfach ist, mehrere
Merkmale einschliessen. Jedes dieser Merkmale ist ihm
gleich wesentlich wie die übrigen; keins gehört mehr
oder weniger zu ihm, als die andern. Nun soll der psy-
chologische Begriff zu diesem logischen sich verhalten

M 2

so liegen in unserm Vorstellen selbst, Unterschiede, ver-
möge deren die Art ihres Eintritts ins Bewuſstseyn sich
bald verräth, bald unbemerkt bleibt.

Nämlich so lange die Vorstellungen mit ihren räum-
lichen und zeitlichen Associationen behaftet ins Bewuſst-
seyn kommen, verrathen sie sich als reproducirte Wahr-
nehmungen, als Einbildungen. Bringt aber eine Vor-
stellung nichts als sich selbst
: dann bedarf es kei-
ner Abstraction, denn die Thätigkeit ihrer Wiedererhe-
bung ist ohnehin kein Gegenstand des Bewuſstseyns. —
Uebrigens gehört die Frage, wie wir es machen, unsre
Vorstellungen zu beobachten, und sie entweder als
Einbildungen, oder als Begriffe anzuerkennen, noch gar
nicht hieher.

Die Hauptfrage aber, worauf die Untersuchung über
den Ursprung der Begriffe zu reduciren ist, läſst sich aus
dem eben Gesagten schon erkennen. Es ist diese: wie
kommen unsre Vorstellungen los von den Com-
plicationen und Verschmelzungen, in welche
sie bey ihrem Entstehen, und bey jedem Wie-
dererwachen unvermeidlich gerathen
?

Offenbar ist diese Frage um so schwerer, je einfa-
cher die Begriffe sind, auf welche man sie anwendet.
Die zusammengesetztern Begriffe sind aus wenigeren
Verbindungen frey geworden, und bilden sich daher leich-
ter und früher.

Die Frage wird in ihrer Wichtigkeit fühlbarer, und
in Verbindung mit einigen Nebenfragen gesetzt werden,
wenn wir die Forderung, daſs der Begriff im psycholo-
gischen Sinne den logischen Begriff zu seinem Vorgestell-
ten haben solle, noch näher betrachten.

1) Sehen wir auf den Inhalt eines logischen Begriffs:
so wird derselbe, wofern er nicht einfach ist, mehrere
Merkmale einschlieſsen. Jedes dieser Merkmale ist ihm
gleich wesentlich wie die übrigen; keins gehört mehr
oder weniger zu ihm, als die andern. Nun soll der psy-
chologische Begriff zu diesem logischen sich verhalten

M 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0214" n="179"/>
so liegen in unserm Vorstellen selbst, Unterschiede, ver-<lb/>
möge deren die Art ihres Eintritts ins Bewu&#x017F;stseyn sich<lb/>
bald verräth, bald unbemerkt bleibt.</p><lb/>
              <p>Nämlich so lange die Vorstellungen mit ihren räum-<lb/>
lichen und zeitlichen Associationen behaftet ins Bewu&#x017F;st-<lb/>
seyn kommen, verrathen sie sich als reproducirte Wahr-<lb/>
nehmungen, als Einbildungen. <hi rendition="#g">Bringt aber eine Vor-<lb/>
stellung nichts als sich selbst</hi>: dann bedarf es kei-<lb/>
ner Abstraction, denn die Thätigkeit ihrer Wiedererhe-<lb/>
bung ist ohnehin kein Gegenstand des Bewu&#x017F;stseyns. &#x2014;<lb/>
Uebrigens gehört die Frage, <hi rendition="#g">wie wir es machen</hi>, unsre<lb/>
Vorstellungen zu beobachten, und sie entweder als<lb/>
Einbildungen, oder als Begriffe anzuerkennen, noch gar<lb/>
nicht hieher.</p><lb/>
              <p>Die Hauptfrage aber, worauf die Untersuchung über<lb/>
den Ursprung der Begriffe zu reduciren ist, lä&#x017F;st sich aus<lb/>
dem eben Gesagten schon erkennen. Es ist diese: <hi rendition="#g">wie<lb/>
kommen unsre Vorstellungen los von den Com-<lb/>
plicationen und Verschmelzungen, in welche<lb/>
sie bey ihrem Entstehen, und bey jedem Wie-<lb/>
dererwachen unvermeidlich gerathen</hi>?</p><lb/>
              <p>Offenbar ist diese Frage um so schwerer, je einfa-<lb/>
cher die Begriffe sind, auf welche man sie anwendet.<lb/>
Die zusammengesetztern Begriffe sind aus wenigeren<lb/>
Verbindungen frey geworden, und bilden sich daher leich-<lb/>
ter und früher.</p><lb/>
              <p>Die Frage wird in ihrer Wichtigkeit fühlbarer, und<lb/>
in Verbindung mit einigen Nebenfragen gesetzt werden,<lb/>
wenn wir die Forderung, da&#x017F;s der Begriff im psycholo-<lb/>
gischen Sinne den logischen Begriff zu seinem Vorgestell-<lb/>
ten haben solle, noch näher betrachten.</p><lb/>
              <p>1) Sehen wir auf den Inhalt eines logischen Begriffs:<lb/>
so wird derselbe, wofern er nicht einfach ist, mehrere<lb/>
Merkmale einschlie&#x017F;sen. Jedes dieser Merkmale ist ihm<lb/><hi rendition="#g">gleich</hi> wesentlich wie die übrigen; keins gehört mehr<lb/>
oder weniger zu ihm, als die andern. Nun soll der psy-<lb/>
chologische Begriff zu diesem logischen sich verhalten<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">M 2</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[179/0214] so liegen in unserm Vorstellen selbst, Unterschiede, ver- möge deren die Art ihres Eintritts ins Bewuſstseyn sich bald verräth, bald unbemerkt bleibt. Nämlich so lange die Vorstellungen mit ihren räum- lichen und zeitlichen Associationen behaftet ins Bewuſst- seyn kommen, verrathen sie sich als reproducirte Wahr- nehmungen, als Einbildungen. Bringt aber eine Vor- stellung nichts als sich selbst: dann bedarf es kei- ner Abstraction, denn die Thätigkeit ihrer Wiedererhe- bung ist ohnehin kein Gegenstand des Bewuſstseyns. — Uebrigens gehört die Frage, wie wir es machen, unsre Vorstellungen zu beobachten, und sie entweder als Einbildungen, oder als Begriffe anzuerkennen, noch gar nicht hieher. Die Hauptfrage aber, worauf die Untersuchung über den Ursprung der Begriffe zu reduciren ist, läſst sich aus dem eben Gesagten schon erkennen. Es ist diese: wie kommen unsre Vorstellungen los von den Com- plicationen und Verschmelzungen, in welche sie bey ihrem Entstehen, und bey jedem Wie- dererwachen unvermeidlich gerathen? Offenbar ist diese Frage um so schwerer, je einfa- cher die Begriffe sind, auf welche man sie anwendet. Die zusammengesetztern Begriffe sind aus wenigeren Verbindungen frey geworden, und bilden sich daher leich- ter und früher. Die Frage wird in ihrer Wichtigkeit fühlbarer, und in Verbindung mit einigen Nebenfragen gesetzt werden, wenn wir die Forderung, daſs der Begriff im psycholo- gischen Sinne den logischen Begriff zu seinem Vorgestell- ten haben solle, noch näher betrachten. 1) Sehen wir auf den Inhalt eines logischen Begriffs: so wird derselbe, wofern er nicht einfach ist, mehrere Merkmale einschlieſsen. Jedes dieser Merkmale ist ihm gleich wesentlich wie die übrigen; keins gehört mehr oder weniger zu ihm, als die andern. Nun soll der psy- chologische Begriff zu diesem logischen sich verhalten M 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/214
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/214>, abgerufen am 24.11.2024.