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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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und eben so bestimmt muss geläugnet werden, dass nach
Kants Behauptung, (§. 15. der Kritik der reinen Ver-
nunft,) eine besondere Verstandeshandlung nöthig
sey, um das Mannigfaltige einer Anschauung zur Einheit
eines Objects zu verbinden. Allein die Psychologen,
welche sich durch Unterscheidung der Seelenvermögen
ein Verdienst zu erwerben glaubten, haben nun einmal
den Verstand in die Auffassung der Dinge eingemischt;
sie rechnen auch einstimmig den Verstand zum obern
Erkenntnissvermögen; daher wird nach dem gangbaren
Sprachgebrauche die Ueberschrift dieses Capitels nicht
unpassend seyn für die darin abzuhandelnden Gegen-
stände.

Zur bequemeren Uebersicht erst einige Vorerinne-
rungen! Wir beschäfftigen uns in diesem ganzen Ab-
schnitte mit dem geistigen Leben überhaupt, also noch
nicht mit dem Eigenthümlichen der menschlichen Ausbil-
dung. Da nun das obere Vermögen der Vorzug des
Menschen vor den Thieren seyn soll: so müssten wir
dieses Vermögen hier noch gar nicht berühren. Allein
die ganze Unterscheidung zwischen Mensch und Thier
ist so höchst schwankend, dass die Psychologen sogar
ausdrücklich den Thieren ein analogon rationis einräu-
men; gleichsam eine schwache Nachahmung der mensch-
lichen Vernunft; während doch ohne Zweifel jedes Thier
in seiner Art eine ursprüngliche Vollständigkeit besitzt,
so gut wie der Mensch.

Ferner: drey Hauptpuncte sind es, welche wir in
diesem Capitel betrachten werden; die Vorstellungen von
Dingen, die Gesammt-Eindrücke gleichartiger Gegen-
stände, und die Urtheile. Hiebey ist vorläufig zu mer-
ken, dass die Ausbildung der ächten allgemeinen Begriffe,
welche mit den Gesammt-Eindrücken ähnlicher Gegen-
stände nicht verwechselt werden dürfen, den Urtheilen
nicht vorangeht, sondern erst durch dieselben zu Stande
kommt, und also ihnen nachfolgt.

Eben so nöthig ist es, zu merken, dass das An-

und eben so bestimmt muſs geläugnet werden, daſs nach
Kants Behauptung, (§. 15. der Kritik der reinen Ver-
nunft,) eine besondere Verstandeshandlung nöthig
sey, um das Mannigfaltige einer Anschauung zur Einheit
eines Objects zu verbinden. Allein die Psychologen,
welche sich durch Unterscheidung der Seelenvermögen
ein Verdienst zu erwerben glaubten, haben nun einmal
den Verstand in die Auffassung der Dinge eingemischt;
sie rechnen auch einstimmig den Verstand zum obern
Erkenntniſsvermögen; daher wird nach dem gangbaren
Sprachgebrauche die Ueberschrift dieses Capitels nicht
unpassend seyn für die darin abzuhandelnden Gegen-
stände.

Zur bequemeren Uebersicht erst einige Vorerinne-
rungen! Wir beschäfftigen uns in diesem ganzen Ab-
schnitte mit dem geistigen Leben überhaupt, also noch
nicht mit dem Eigenthümlichen der menschlichen Ausbil-
dung. Da nun das obere Vermögen der Vorzug des
Menschen vor den Thieren seyn soll: so müſsten wir
dieses Vermögen hier noch gar nicht berühren. Allein
die ganze Unterscheidung zwischen Mensch und Thier
ist so höchst schwankend, daſs die Psychologen sogar
ausdrücklich den Thieren ein analogon rationis einräu-
men; gleichsam eine schwache Nachahmung der mensch-
lichen Vernunft; während doch ohne Zweifel jedes Thier
in seiner Art eine ursprüngliche Vollständigkeit besitzt,
so gut wie der Mensch.

Ferner: drey Hauptpuncte sind es, welche wir in
diesem Capitel betrachten werden; die Vorstellungen von
Dingen, die Gesammt-Eindrücke gleichartiger Gegen-
stände, und die Urtheile. Hiebey ist vorläufig zu mer-
ken, daſs die Ausbildung der ächten allgemeinen Begriffe,
welche mit den Gesammt-Eindrücken ähnlicher Gegen-
stände nicht verwechselt werden dürfen, den Urtheilen
nicht vorangeht, sondern erst durch dieselben zu Stande
kommt, und also ihnen nachfolgt.

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[164/0199] und eben so bestimmt muſs geläugnet werden, daſs nach Kants Behauptung, (§. 15. der Kritik der reinen Ver- nunft,) eine besondere Verstandeshandlung nöthig sey, um das Mannigfaltige einer Anschauung zur Einheit eines Objects zu verbinden. Allein die Psychologen, welche sich durch Unterscheidung der Seelenvermögen ein Verdienst zu erwerben glaubten, haben nun einmal den Verstand in die Auffassung der Dinge eingemischt; sie rechnen auch einstimmig den Verstand zum obern Erkenntniſsvermögen; daher wird nach dem gangbaren Sprachgebrauche die Ueberschrift dieses Capitels nicht unpassend seyn für die darin abzuhandelnden Gegen- stände. Zur bequemeren Uebersicht erst einige Vorerinne- rungen! Wir beschäfftigen uns in diesem ganzen Ab- schnitte mit dem geistigen Leben überhaupt, also noch nicht mit dem Eigenthümlichen der menschlichen Ausbil- dung. Da nun das obere Vermögen der Vorzug des Menschen vor den Thieren seyn soll: so müſsten wir dieses Vermögen hier noch gar nicht berühren. Allein die ganze Unterscheidung zwischen Mensch und Thier ist so höchst schwankend, daſs die Psychologen sogar ausdrücklich den Thieren ein analogon rationis einräu- men; gleichsam eine schwache Nachahmung der mensch- lichen Vernunft; während doch ohne Zweifel jedes Thier in seiner Art eine ursprüngliche Vollständigkeit besitzt, so gut wie der Mensch. Ferner: drey Hauptpuncte sind es, welche wir in diesem Capitel betrachten werden; die Vorstellungen von Dingen, die Gesammt-Eindrücke gleichartiger Gegen- stände, und die Urtheile. Hiebey ist vorläufig zu mer- ken, daſs die Ausbildung der ächten allgemeinen Begriffe, welche mit den Gesammt-Eindrücken ähnlicher Gegen- stände nicht verwechselt werden dürfen, den Urtheilen nicht vorangeht, sondern erst durch dieselben zu Stande kommt, und also ihnen nachfolgt. Eben so nöthig ist es, zu merken, daſs das An-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/199>, abgerufen am 22.11.2024.