Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

Bild:
<< vorherige Seite

ein Vieles auseinander. Lässt man den Abstand schwin-
den, so fallen die Parallelen in Eine Linie zusammen;
gestattet man das Schneiden, so entzweyt man die Rich-
tung. Der psychologische Ursprung der Parallelen ist
das Vesthalten des allgemeinen Begriffes der Rich-
tung; während der Punct, von dem man ausgeht, an ver-
schiedene Orte zugleich hinversetzt wird. Könnte man
den allgemeinen Begriff der Richtung auf der Tafel zeich-
nen, so würden die Geometer schwerlich je über Paral-
lelen gestritten haben; da man es nicht kann, werden sie
vielleicht ewig darüber streiten.

Die übrigen räumlichen Constructionen lassen sich
zum Theil aus dem Vorigen leicht ableiten (so ist
z. B. das Perpendikel auf eine Linie, psychologisch be-
trachtet, nichts anders als die von derselben seitwärts
gehende Reproduction, nachdem in ihr alles Entgegen-
gesetzte sich gehemmt hat, wie man aus der Zerlegung
der Richtungen sogleich findet;) theils würden sie hier
zu weitläuftig werden.

Aber merkwürdig ist, dass, nachdem einmal geome-
trische Constructionen auf dem leeren oder als leer be-
trachteten Raum in Gang gekommen sind, sie sich über-
all, mit und ohne Willkühr einschieben; -- so wird eine
Reihe von Bäumen als eine gerade Linie, ein Polygon
von mehr als etwa sechs Seiten als ein Kreis gesehen, --
ja dass sie sich aufdringen, als das, was seyn sollte,
im Gegensatz der Sinnendinge wie sie sind. Dies ist zu-
nächst nur ein Zeichen des Uebergewichts der ältern,
längst vielfach verknüpften und ausgebildeten Vorstellungs-
massen über die momentanen, mit schwacher Empfäng-
lichkeit erzeugten, neuen Wahrnehmungen; ästhetische
Urtheile können noch hinzukommen, und das eigentliche
Sollen herbey bringen, welches allemal, wo es vorkommt,
von ihnen ausgeht, und ihren Gegensatz gegen das
Wirkliche bezeichnet.

§. 115.

Betrachtungen über die dritte Dimension bis zu denen

ein Vieles auseinander. Läſst man den Abstand schwin-
den, so fallen die Parallelen in Eine Linie zusammen;
gestattet man das Schneiden, so entzweyt man die Rich-
tung. Der psychologische Ursprung der Parallelen ist
das Vesthalten des allgemeinen Begriffes der Rich-
tung; während der Punct, von dem man ausgeht, an ver-
schiedene Orte zugleich hinversetzt wird. Könnte man
den allgemeinen Begriff der Richtung auf der Tafel zeich-
nen, so würden die Geometer schwerlich je über Paral-
lelen gestritten haben; da man es nicht kann, werden sie
vielleicht ewig darüber streiten.

Die übrigen räumlichen Constructionen lassen sich
zum Theil aus dem Vorigen leicht ableiten (so ist
z. B. das Perpendikel auf eine Linie, psychologisch be-
trachtet, nichts anders als die von derselben seitwärts
gehende Reproduction, nachdem in ihr alles Entgegen-
gesetzte sich gehemmt hat, wie man aus der Zerlegung
der Richtungen sogleich findet;) theils würden sie hier
zu weitläuftig werden.

Aber merkwürdig ist, daſs, nachdem einmal geome-
trische Constructionen auf dem leeren oder als leer be-
trachteten Raum in Gang gekommen sind, sie sich über-
all, mit und ohne Willkühr einschieben; — so wird eine
Reihe von Bäumen als eine gerade Linie, ein Polygon
von mehr als etwa sechs Seiten als ein Kreis gesehen, —
ja daſs sie sich aufdringen, als das, was seyn sollte,
im Gegensatz der Sinnendinge wie sie sind. Dies ist zu-
nächst nur ein Zeichen des Uebergewichts der ältern,
längst vielfach verknüpften und ausgebildeten Vorstellungs-
massen über die momentanen, mit schwacher Empfäng-
lichkeit erzeugten, neuen Wahrnehmungen; ästhetische
Urtheile können noch hinzukommen, und das eigentliche
Sollen herbey bringen, welches allemal, wo es vorkommt,
von ihnen ausgeht, und ihren Gegensatz gegen das
Wirkliche bezeichnet.

§. 115.

Betrachtungen über die dritte Dimension bis zu denen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0187" n="152"/>
ein Vieles auseinander. Lä&#x017F;st man den Abstand schwin-<lb/>
den, so fallen die Parallelen in Eine Linie zusammen;<lb/>
gestattet man das Schneiden, so entzweyt man die Rich-<lb/>
tung. Der psychologische Ursprung der Parallelen ist<lb/>
das Vesthalten des <hi rendition="#g">allgemeinen Begriffes</hi> der Rich-<lb/>
tung; während der Punct, von dem man ausgeht, an ver-<lb/>
schiedene Orte zugleich hinversetzt wird. Könnte man<lb/>
den allgemeinen Begriff der Richtung auf der Tafel zeich-<lb/>
nen, so würden die Geometer schwerlich je über Paral-<lb/>
lelen gestritten haben; da man es nicht kann, werden sie<lb/>
vielleicht ewig darüber streiten.</p><lb/>
              <p>Die übrigen räumlichen Constructionen lassen sich<lb/>
zum Theil aus dem Vorigen leicht ableiten (so ist<lb/>
z. B. das Perpendikel auf eine Linie, psychologisch be-<lb/>
trachtet, nichts anders als die von derselben seitwärts<lb/>
gehende Reproduction, nachdem in ihr alles Entgegen-<lb/>
gesetzte sich gehemmt hat, wie man aus der Zerlegung<lb/>
der Richtungen sogleich findet;) theils würden sie hier<lb/>
zu weitläuftig werden.</p><lb/>
              <p>Aber merkwürdig ist, da&#x017F;s, nachdem einmal geome-<lb/>
trische Constructionen auf dem leeren oder als leer be-<lb/>
trachteten Raum in Gang gekommen sind, sie sich über-<lb/>
all, mit und ohne Willkühr einschieben; &#x2014; so wird eine<lb/>
Reihe von Bäumen als eine gerade Linie, ein Polygon<lb/>
von mehr als etwa sechs Seiten als ein Kreis gesehen, &#x2014;<lb/>
ja da&#x017F;s sie sich aufdringen, als das, was seyn <hi rendition="#g">sollte</hi>,<lb/>
im Gegensatz der Sinnendinge wie sie sind. Dies ist zu-<lb/>
nächst nur ein Zeichen des Uebergewichts der ältern,<lb/>
längst vielfach verknüpften und ausgebildeten Vorstellungs-<lb/>
massen über die momentanen, mit schwacher Empfäng-<lb/>
lichkeit erzeugten, neuen Wahrnehmungen; ästhetische<lb/>
Urtheile können noch hinzukommen, und das eigentliche<lb/><hi rendition="#g">Sollen</hi> herbey bringen, welches allemal, wo es vorkommt,<lb/>
von <hi rendition="#g">ihnen</hi> ausgeht, und ihren Gegensatz gegen das<lb/>
Wirkliche bezeichnet.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 115.</head><lb/>
              <p>Betrachtungen über die dritte Dimension bis zu denen<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[152/0187] ein Vieles auseinander. Läſst man den Abstand schwin- den, so fallen die Parallelen in Eine Linie zusammen; gestattet man das Schneiden, so entzweyt man die Rich- tung. Der psychologische Ursprung der Parallelen ist das Vesthalten des allgemeinen Begriffes der Rich- tung; während der Punct, von dem man ausgeht, an ver- schiedene Orte zugleich hinversetzt wird. Könnte man den allgemeinen Begriff der Richtung auf der Tafel zeich- nen, so würden die Geometer schwerlich je über Paral- lelen gestritten haben; da man es nicht kann, werden sie vielleicht ewig darüber streiten. Die übrigen räumlichen Constructionen lassen sich zum Theil aus dem Vorigen leicht ableiten (so ist z. B. das Perpendikel auf eine Linie, psychologisch be- trachtet, nichts anders als die von derselben seitwärts gehende Reproduction, nachdem in ihr alles Entgegen- gesetzte sich gehemmt hat, wie man aus der Zerlegung der Richtungen sogleich findet;) theils würden sie hier zu weitläuftig werden. Aber merkwürdig ist, daſs, nachdem einmal geome- trische Constructionen auf dem leeren oder als leer be- trachteten Raum in Gang gekommen sind, sie sich über- all, mit und ohne Willkühr einschieben; — so wird eine Reihe von Bäumen als eine gerade Linie, ein Polygon von mehr als etwa sechs Seiten als ein Kreis gesehen, — ja daſs sie sich aufdringen, als das, was seyn sollte, im Gegensatz der Sinnendinge wie sie sind. Dies ist zu- nächst nur ein Zeichen des Uebergewichts der ältern, längst vielfach verknüpften und ausgebildeten Vorstellungs- massen über die momentanen, mit schwacher Empfäng- lichkeit erzeugten, neuen Wahrnehmungen; ästhetische Urtheile können noch hinzukommen, und das eigentliche Sollen herbey bringen, welches allemal, wo es vorkommt, von ihnen ausgeht, und ihren Gegensatz gegen das Wirkliche bezeichnet. §. 115. Betrachtungen über die dritte Dimension bis zu denen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/187
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/187>, abgerufen am 22.12.2024.