Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

Bild:
<< vorherige Seite

wenn man das beschauende Auge und den tastenden
Finger vorwärts und rückwärts bewegt.

Denn beym Vorwärtsgehn sinken allmählig die er-
sten Auffassungen, und verschmelzen, während des Sin-
kens sich abstufend, immer weniger und weniger mit den
Nachfolgenden. Beym mindesten Rückkehren aber gera-
then sämmtliche früheren Auffassungen, begünstigt durch
die eben jetzt hinzukommenden, die ihnen gleichen, ins
Steigen; und mit diesem Steigen ist ein nisus zur Repro-
duction aller übrigen verbunden, dessen Geschwindigkeit
genau dieselben Abstufungen hat wie die zuvor gesche-
hene Verschmelzung.

Dies nun ist das Wesentliche, was der Leser su-
then muss sich gleich jetzt so deutlich zu denken, als es
ihm gelingen will. Er wird alsdann gewahr werden, dass
jede Vorstellung allen ihre Plätze anweis't, in denen
sie sich neben und zwischen einander lagern müssen;
während doch der Actus des Vorstellens rein intensiv ist
und bleibt.

Das ruhende Auge aber sicht keinen Raum. Dies
ist in der Erfahrung etwas schwer zu erkennen, weil wir
so leicht den längst bekannten Raum erschleichen und
einschieben. Doch versuche man, ganz starr vor sich
hinzusehen; man wird spüren, dass der Raum schwindet,
und dass, im Bemühen, ihn wieder zu gewinnen, man
sich über einer kaum merklichen Bewegung des Auges
ertappen kann. Beym Beschauen neuer Gegenstände
ist übrigens die unaufhörliche Regsamkeit, womit der
Blick die Gestalt umläuft, sehr leicht wahrzunehmen.

Die räumliche Auffassung liegt also nicht in der
allerersten, unmittelbaren Wahrnehmung, hier kann sie
nicht liegen, denn es ist evident, dass die vollkommne
Intensität des Vorstellens, so lange noch die Vorstellun-
gen in eine einzige Masse zusammenschmelzen, und so
lange jede für alle nur einen einzigen, gleichen nisus
der Reproduction aufzubieten hat, alle Räumlichkeit auf-
hebt. Vielmehr kommt allerdings aus dem Innern etwas

wenn man das beschauende Auge und den tastenden
Finger vorwärts und rückwärts bewegt.

Denn beym Vorwärtsgehn sinken allmählig die er-
sten Auffassungen, und verschmelzen, während des Sin-
kens sich abstufend, immer weniger und weniger mit den
Nachfolgenden. Beym mindesten Rückkehren aber gera-
then sämmtliche früheren Auffassungen, begünstigt durch
die eben jetzt hinzukommenden, die ihnen gleichen, ins
Steigen; und mit diesem Steigen ist ein nisus zur Repro-
duction aller übrigen verbunden, dessen Geschwindigkeit
genau dieselben Abstufungen hat wie die zuvor gesche-
hene Verschmelzung.

Dies nun ist das Wesentliche, was der Leser su-
then muſs sich gleich jetzt so deutlich zu denken, als es
ihm gelingen will. Er wird alsdann gewahr werden, daſs
jede Vorstellung allen ihre Plätze anweis’t, in denen
sie sich neben und zwischen einander lagern müssen;
während doch der Actus des Vorstellens rein intensiv ist
und bleibt.

Das ruhende Auge aber sicht keinen Raum. Dies
ist in der Erfahrung etwas schwer zu erkennen, weil wir
so leicht den längst bekannten Raum erschleichen und
einschieben. Doch versuche man, ganz starr vor sich
hinzusehen; man wird spüren, daſs der Raum schwindet,
und daſs, im Bemühen, ihn wieder zu gewinnen, man
sich über einer kaum merklichen Bewegung des Auges
ertappen kann. Beym Beschauen neuer Gegenstände
ist übrigens die unaufhörliche Regsamkeit, womit der
Blick die Gestalt umläuft, sehr leicht wahrzunehmen.

Die räumliche Auffassung liegt also nicht in der
allerersten, unmittelbaren Wahrnehmung, hier kann sie
nicht liegen, denn es ist evident, daſs die vollkommne
Intensität des Vorstellens, so lange noch die Vorstellun-
gen in eine einzige Masse zusammenschmelzen, und so
lange jede für alle nur einen einzigen, gleichen nisus
der Reproduction aufzubieten hat, alle Räumlichkeit auf-
hebt. Vielmehr kommt allerdings aus dem Innern etwas

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0162" n="127"/>
wenn man das beschauende Auge und den tastenden<lb/>
Finger <hi rendition="#g">vorwärts</hi> und <hi rendition="#g">rückwärts</hi> bewegt.</p><lb/>
              <p>Denn beym Vorwärtsgehn sinken allmählig die er-<lb/>
sten Auffassungen, und verschmelzen, während des Sin-<lb/>
kens sich abstufend, immer weniger und weniger mit den<lb/>
Nachfolgenden. Beym mindesten Rückkehren aber gera-<lb/>
then sämmtliche früheren Auffassungen, begünstigt durch<lb/>
die eben jetzt hinzukommenden, die ihnen gleichen, ins<lb/>
Steigen; und mit diesem Steigen ist ein <hi rendition="#i">nisus</hi> zur Repro-<lb/>
duction aller übrigen verbunden, dessen Geschwindigkeit<lb/>
genau dieselben Abstufungen hat wie die zuvor gesche-<lb/>
hene Verschmelzung.</p><lb/>
              <p>Dies nun ist das Wesentliche, was der Leser su-<lb/>
then mu&#x017F;s sich gleich jetzt so deutlich zu denken, als es<lb/>
ihm gelingen will. Er wird alsdann gewahr werden, da&#x017F;s<lb/><hi rendition="#g">jede</hi> Vorstellung <hi rendition="#g">allen</hi> ihre Plätze anweis&#x2019;t, in denen<lb/>
sie sich <hi rendition="#g">neben</hi> und <hi rendition="#g">zwischen</hi> einander lagern müssen;<lb/>
während doch der Actus des Vorstellens rein intensiv ist<lb/>
und bleibt.</p><lb/>
              <p>Das ruhende Auge aber sicht keinen Raum. Dies<lb/>
ist in der Erfahrung etwas schwer zu erkennen, weil wir<lb/>
so leicht den längst bekannten Raum erschleichen und<lb/>
einschieben. Doch versuche man, ganz starr vor sich<lb/>
hinzusehen; man wird spüren, da&#x017F;s der Raum schwindet,<lb/>
und da&#x017F;s, im Bemühen, ihn wieder zu gewinnen, man<lb/>
sich über einer kaum merklichen Bewegung des Auges<lb/>
ertappen kann. Beym Beschauen neuer Gegenstände<lb/>
ist übrigens die unaufhörliche Regsamkeit, womit der<lb/>
Blick die Gestalt umläuft, sehr leicht wahrzunehmen.</p><lb/>
              <p>Die räumliche Auffassung liegt also nicht in der<lb/>
allerersten, unmittelbaren Wahrnehmung, hier <hi rendition="#g">kann</hi> sie<lb/>
nicht liegen, denn es ist evident, da&#x017F;s die vollkommne<lb/>
Intensität des Vorstellens, so lange noch die Vorstellun-<lb/>
gen in eine einzige Masse zusammenschmelzen, und so<lb/>
lange jede für alle nur einen <hi rendition="#g">einzigen, gleichen</hi> <hi rendition="#i">nisus</hi><lb/>
der Reproduction aufzubieten hat, alle Räumlichkeit auf-<lb/>
hebt. Vielmehr kommt allerdings aus dem Innern etwas<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[127/0162] wenn man das beschauende Auge und den tastenden Finger vorwärts und rückwärts bewegt. Denn beym Vorwärtsgehn sinken allmählig die er- sten Auffassungen, und verschmelzen, während des Sin- kens sich abstufend, immer weniger und weniger mit den Nachfolgenden. Beym mindesten Rückkehren aber gera- then sämmtliche früheren Auffassungen, begünstigt durch die eben jetzt hinzukommenden, die ihnen gleichen, ins Steigen; und mit diesem Steigen ist ein nisus zur Repro- duction aller übrigen verbunden, dessen Geschwindigkeit genau dieselben Abstufungen hat wie die zuvor gesche- hene Verschmelzung. Dies nun ist das Wesentliche, was der Leser su- then muſs sich gleich jetzt so deutlich zu denken, als es ihm gelingen will. Er wird alsdann gewahr werden, daſs jede Vorstellung allen ihre Plätze anweis’t, in denen sie sich neben und zwischen einander lagern müssen; während doch der Actus des Vorstellens rein intensiv ist und bleibt. Das ruhende Auge aber sicht keinen Raum. Dies ist in der Erfahrung etwas schwer zu erkennen, weil wir so leicht den längst bekannten Raum erschleichen und einschieben. Doch versuche man, ganz starr vor sich hinzusehen; man wird spüren, daſs der Raum schwindet, und daſs, im Bemühen, ihn wieder zu gewinnen, man sich über einer kaum merklichen Bewegung des Auges ertappen kann. Beym Beschauen neuer Gegenstände ist übrigens die unaufhörliche Regsamkeit, womit der Blick die Gestalt umläuft, sehr leicht wahrzunehmen. Die räumliche Auffassung liegt also nicht in der allerersten, unmittelbaren Wahrnehmung, hier kann sie nicht liegen, denn es ist evident, daſs die vollkommne Intensität des Vorstellens, so lange noch die Vorstellun- gen in eine einzige Masse zusammenschmelzen, und so lange jede für alle nur einen einzigen, gleichen nisus der Reproduction aufzubieten hat, alle Räumlichkeit auf- hebt. Vielmehr kommt allerdings aus dem Innern etwas

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/162
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/162>, abgerufen am 27.11.2024.