samern und des Schnelleren nicht hinauskommen. Uns in den Gemüthszustand derselben zurück zu versetzen, nachdem wir ihn einmal überschritten haben, wird uns nicht gelingen; dagegen werden wir uns um so eher von der Einbildung hinreissen lassen, als sey eine so ausge- bildete, ja künstliche Auffassung des Zeitlichen und des Räumlichen, wie uns nun einmal anklebt, eine wahrhaft ursprüngliche menschliche Anlage. --
Diejenigen endlich, welche mit heutiger Schul-Phi- losophie sich zu beschäfftigen gewohnt sind, müssen sich an diesem Puncte die dringende Warnung gefallen las- sen, nicht in die gemeine Verwechselung zweyer gänzlich verschiedenen Untersuchungen zu gerathen. Die Frage, wie wir zu unsern Vorstellungen des Räumlichen und Zeitlichen kommen mögen, nämlich zu den gemeinen, und von Kindheit auf gehegten Vorstellungen, -- eben die Frage, die uns hier beschäfftigt, -- muss nothwendig gesondert werden von der völlig heterogenen Frage, ob wirklich etwas ausser uns in räumlichen Verhältnissen existire? Was diese letztere Frage anlangt, die in die allgemeine Metaphysik (oder, mit dem alten Namen, in die Ontologie,) hineingehört: so wird sie von Leibnitz bejahet, während Kant alle positive Beantwortung der- selben verbietet. Aber was sind Kants Gründe? Er sucht zu beweisen, die räumlichen Formen entspringen aus einer Urform unserer Sinnlichkeit, sie kommen kei- nesweges von aussen in uns hinein. Gesetzt, das werde eingeräumt: ist nun damit Leibnitz widerlegt? So we- nig, dass er vielmehr gerade das nämliche auf das be- stimmteste behauptet. Denn nach der prästabilirten Har- monie entspringen alle unsere Vorstellungen in uns selbst, aus der eigenen Anlage unserer Seele, ohne den gering- sten Causal-Zusammenhang mit dem, was draussen ist. In Leibnitzens Lehre bestehen zwey ganz verschiedene Behauptungen völlig mit einander; die eine psychologische: Raum und Zeit sind Vorstellungen, die sich lediglich aus unserer ursprünglichen Anlage entwickeln, (so wie
samern und des Schnelleren nicht hinauskommen. Uns in den Gemüthszustand derselben zurück zu versetzen, nachdem wir ihn einmal überschritten haben, wird uns nicht gelingen; dagegen werden wir uns um so eher von der Einbildung hinreiſsen lassen, als sey eine so ausge- bildete, ja künstliche Auffassung des Zeitlichen und des Räumlichen, wie uns nun einmal anklebt, eine wahrhaft ursprüngliche menschliche Anlage. —
Diejenigen endlich, welche mit heutiger Schul-Phi- losophie sich zu beschäfftigen gewohnt sind, müssen sich an diesem Puncte die dringende Warnung gefallen las- sen, nicht in die gemeine Verwechselung zweyer gänzlich verschiedenen Untersuchungen zu gerathen. Die Frage, wie wir zu unsern Vorstellungen des Räumlichen und Zeitlichen kommen mögen, nämlich zu den gemeinen, und von Kindheit auf gehegten Vorstellungen, — eben die Frage, die uns hier beschäfftigt, — muſs nothwendig gesondert werden von der völlig heterogenen Frage, ob wirklich etwas auſser uns in räumlichen Verhältnissen existire? Was diese letztere Frage anlangt, die in die allgemeine Metaphysik (oder, mit dem alten Namen, in die Ontologie,) hineingehört: so wird sie von Leibnitz bejahet, während Kant alle positive Beantwortung der- selben verbietet. Aber was sind Kants Gründe? Er sucht zu beweisen, die räumlichen Formen entspringen aus einer Urform unserer Sinnlichkeit, sie kommen kei- nesweges von auſsen in uns hinein. Gesetzt, das werde eingeräumt: ist nun damit Leibnitz widerlegt? So we- nig, daſs er vielmehr gerade das nämliche auf das be- stimmteste behauptet. Denn nach der prästabilirten Har- monie entspringen alle unsere Vorstellungen in uns selbst, aus der eigenen Anlage unserer Seele, ohne den gering- sten Causal-Zusammenhang mit dem, was drauſsen ist. In Leibnitzens Lehre bestehen zwey ganz verschiedene Behauptungen völlig mit einander; die eine psychologische: Raum und Zeit sind Vorstellungen, die sich lediglich aus unserer ursprünglichen Anlage entwickeln, (so wie
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samern und des Schnelleren nicht hinauskommen. Uns
in den Gemüthszustand derselben zurück zu versetzen,
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nicht gelingen; dagegen werden wir uns um so eher von
der Einbildung hinreiſsen lassen, als sey eine so ausge-
bildete, ja künstliche Auffassung des Zeitlichen und des
Räumlichen, wie uns nun einmal anklebt, eine wahrhaft
ursprüngliche menschliche Anlage. —
Diejenigen endlich, welche mit heutiger Schul-Phi-
losophie sich zu beschäfftigen gewohnt sind, müssen sich
an diesem Puncte die dringende Warnung gefallen las-
sen, nicht in die gemeine Verwechselung zweyer gänzlich
verschiedenen Untersuchungen zu gerathen. Die Frage,
wie wir zu unsern Vorstellungen des Räumlichen und
Zeitlichen kommen mögen, nämlich zu den gemeinen,
und von Kindheit auf gehegten Vorstellungen, — eben
die Frage, die uns hier beschäfftigt, — muſs nothwendig
gesondert werden von der völlig heterogenen Frage, ob
wirklich etwas auſser uns in räumlichen Verhältnissen
existire? Was diese letztere Frage anlangt, die in die
allgemeine Metaphysik (oder, mit dem alten Namen, in
die Ontologie,) hineingehört: so wird sie von Leibnitz
bejahet, während Kant alle positive Beantwortung der-
selben verbietet. Aber was sind Kants Gründe? Er
sucht zu beweisen, die räumlichen Formen entspringen
aus einer Urform unserer Sinnlichkeit, sie kommen kei-
nesweges von auſsen in uns hinein. Gesetzt, das werde
eingeräumt: ist nun damit Leibnitz widerlegt? So we-
nig, daſs er vielmehr gerade das nämliche auf das be-
stimmteste behauptet. Denn nach der prästabilirten Har-
monie entspringen alle unsere Vorstellungen in uns selbst,
aus der eigenen Anlage unserer Seele, ohne den gering-
sten Causal-Zusammenhang mit dem, was drauſsen ist.
In Leibnitzens Lehre bestehen zwey ganz verschiedene
Behauptungen völlig mit einander; die eine psychologische:
Raum und Zeit sind Vorstellungen, die sich lediglich
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/157>, abgerufen am 25.11.2024.
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