Räumlichen werden ursprünglich unterschieden; wer dies annimmt, erschleicht eine Thatsache, die sich nicht nachweisen lässt.
Setzen wir nun fürs erste die Vorstellungen des Raumes und der Zeit ganz bey Seite, und halten uns an denen des Räumlichen und Zeitlichen: so scheint es zwar auf den ersten Blick, als hätten wir hier einen recht klaren Gegenstand, welchem die Analyse ohne Mühe seine Merkmale abgewinnen werde. Denn das Räum- liche und Zeitliche lässt sich ja messen und zählen! Es lässt sich im eigentlichen Verstande mit Händen greifen, und wird durch die Worte unserer Sprachen unmittelbar, ohne Metaphern, (die vielmehr von ihm entlehnt sind), bezeichnet! Auch haben wir es nur mit den gemeinsten Vorstellungsarten zu thun; und die metaphysischen Fra- gen, nach dem wahren Wesen des Körperlichen, nach der Möglichkeit des Veränderlichen bekümmern uns hier gar nicht.
So wahr dieses ist: eben so bekannt ist dagegen auch, dass der Sinn für räumliche Auffassungen in den frühesten Kinderjahren eine Uebung erlangt, die ursprüng- lich nicht vorhanden war, welche aber, einmal ange- nommen, sich nicht wieder abstreifen lässt. Die Hand des Kindes lernt erst greifen, das Auge lernt erst sich gehörig richten; aber der Erwachsene vollzieht unwillkührlich, was er gelernt hat; er trübt sich unwill- kührlich die reine sinnliche Wahrnehmung durch Zu- sätze, die seine vorhandene Ausbildung hineinmischt. Wie mit dem Räumlichen, also auch mit dem Zeitlichen. Wir messen die Zeit, durch Vergleichung mit bekannten Zeit- grössen, mit Secunden, Minuten, Stunden, Tagen; wir theilen kleine Zeitabschnitte mit Leichtigkeit in Hälften und in Dritttheile; und wer einmal an rhythmische Auf- fassungen gewöhnt ist, bey dem stellen sie sich überall ein, ohne sein Wollen und Zuthun. Aber es giebt Men- schen ohne solche Uebung und Gewöhnung; es giebt deren, die über die rohesten Unterscheidungen des Lang-
Räumlichen werden ursprünglich unterschieden; wer dies annimmt, erschleicht eine Thatsache, die sich nicht nachweisen läſst.
Setzen wir nun fürs erste die Vorstellungen des Raumes und der Zeit ganz bey Seite, und halten uns an denen des Räumlichen und Zeitlichen: so scheint es zwar auf den ersten Blick, als hätten wir hier einen recht klaren Gegenstand, welchem die Analyse ohne Mühe seine Merkmale abgewinnen werde. Denn das Räum- liche und Zeitliche läſst sich ja messen und zählen! Es läſst sich im eigentlichen Verstande mit Händen greifen, und wird durch die Worte unserer Sprachen unmittelbar, ohne Metaphern, (die vielmehr von ihm entlehnt sind), bezeichnet! Auch haben wir es nur mit den gemeinsten Vorstellungsarten zu thun; und die metaphysischen Fra- gen, nach dem wahren Wesen des Körperlichen, nach der Möglichkeit des Veränderlichen bekümmern uns hier gar nicht.
So wahr dieses ist: eben so bekannt ist dagegen auch, daſs der Sinn für räumliche Auffassungen in den frühesten Kinderjahren eine Uebung erlangt, die ursprüng- lich nicht vorhanden war, welche aber, einmal ange- nommen, sich nicht wieder abstreifen läſst. Die Hand des Kindes lernt erst greifen, das Auge lernt erst sich gehörig richten; aber der Erwachsene vollzieht unwillkührlich, was er gelernt hat; er trübt sich unwill- kührlich die reine sinnliche Wahrnehmung durch Zu- sätze, die seine vorhandene Ausbildung hineinmischt. Wie mit dem Räumlichen, also auch mit dem Zeitlichen. Wir messen die Zeit, durch Vergleichung mit bekannten Zeit- gröſsen, mit Secunden, Minuten, Stunden, Tagen; wir theilen kleine Zeitabschnitte mit Leichtigkeit in Hälften und in Dritttheile; und wer einmal an rhythmische Auf- fassungen gewöhnt ist, bey dem stellen sie sich überall ein, ohne sein Wollen und Zuthun. Aber es giebt Men- schen ohne solche Uebung und Gewöhnung; es giebt deren, die über die rohesten Unterscheidungen des Lang-
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Räumlichen werden ursprünglich unterschieden; wer
dies annimmt, erschleicht eine Thatsache, die sich nicht
nachweisen läſst.
Setzen wir nun fürs erste die Vorstellungen des
Raumes und der Zeit ganz bey Seite, und halten uns an
denen des Räumlichen und Zeitlichen: so scheint es
zwar auf den ersten Blick, als hätten wir hier einen recht
klaren Gegenstand, welchem die Analyse ohne Mühe
seine Merkmale abgewinnen werde. Denn das Räum-
liche und Zeitliche läſst sich ja messen und zählen! Es
läſst sich im eigentlichen Verstande mit Händen greifen,
und wird durch die Worte unserer Sprachen unmittelbar,
ohne Metaphern, (die vielmehr von ihm entlehnt sind),
bezeichnet! Auch haben wir es nur mit den gemeinsten
Vorstellungsarten zu thun; und die metaphysischen Fra-
gen, nach dem wahren Wesen des Körperlichen, nach
der Möglichkeit des Veränderlichen bekümmern uns hier
gar nicht.
So wahr dieses ist: eben so bekannt ist dagegen
auch, daſs der Sinn für räumliche Auffassungen in den
frühesten Kinderjahren eine Uebung erlangt, die ursprüng-
lich nicht vorhanden war, welche aber, einmal ange-
nommen, sich nicht wieder abstreifen läſst.
Die Hand des Kindes lernt erst greifen, das Auge lernt
erst sich gehörig richten; aber der Erwachsene vollzieht
unwillkührlich, was er gelernt hat; er trübt sich unwill-
kührlich die reine sinnliche Wahrnehmung durch Zu-
sätze, die seine vorhandene Ausbildung hineinmischt. Wie
mit dem Räumlichen, also auch mit dem Zeitlichen. Wir
messen die Zeit, durch Vergleichung mit bekannten Zeit-
gröſsen, mit Secunden, Minuten, Stunden, Tagen; wir
theilen kleine Zeitabschnitte mit Leichtigkeit in Hälften
und in Dritttheile; und wer einmal an rhythmische Auf-
fassungen gewöhnt ist, bey dem stellen sie sich überall
ein, ohne sein Wollen und Zuthun. Aber es giebt Men-
schen ohne solche Uebung und Gewöhnung; es giebt
deren, die über die rohesten Unterscheidungen des Lang-
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/156>, abgerufen am 30.01.2025.
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