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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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ches Leben führt, ist darum keinesweges gut und edel,
aber er ist gesund! Hierauf werde ich weiterhin, bey
den Betrachtungen über die Ausbildung der Maximen,
zurückkommen.

Am sichersten ist es ohne Zweifel, der Entstehung
von Leidenschaften vorzubeugen. Dazu ist aber nicht
bloss die eigne Aufmerksamkeit des Menschen auf sich
selbst, sondern auch eine solche äussere Lage und Be-
handlung nöthig, die ihn vor heftigen Reizungen, und
vor dem Mangel des Unentbehrlichen schütze. Barbari-
sche Behandlung macht Barbaren! Man kennt die Schil-
derungen der heutigen Griechen. -- Dagegen hat man
neuerlich die unerwartete Erfahrung gemacht, dass selbst
reissende Thiere durch gute Pflege, welche ihren Bedürf-
nissen abhilft und zuvorkommt, sanftmüthig erhalten wer-
den können. Was hindert uns, anzunehmen, dass die
Raubsucht des Tigers und der Hyäne eine Leidenschaft
sey, die aus unbefriedigtem heftigen Hunger entstand,
und alsdann habituel wurde? *) Wir sehen wenigstens,
dass der Kettenhund, durch sein langes Leiden, eben so
wohl bösartig gemacht wird, als dies beym Menschen der
Fall seyn würde.

Dies erinnert an eine andre Aehnlichkeit zwischen
Menschen und Thieren in Ansehung des Tempera-
ments
**), welches auf Affecten und Leidenschaften ei-

*) Zwar hat man den Thieren die Leidenschaften abgesprochen;
z. B. Herr Hofrath Schulze, (Psychische Anthropologie S. 382.)
weil Hemmung des Verstandesgebrauchs ein wesentliches Merkmal der
Leidenschaften sey. Eher würde ich mich darauf berufen, dass die
Vernünfteley, die wahnwitzige Ueberlegung des leidenschaftlichen Men-
schen, bey den Thieren fehle. Allein die Disposition zur Begierde,
die Reizbarkeit zum Affecte, findet sich doch vor; und die Abwesen-
heit eines negativen Merkmals dürfte wenig Gewicht haben, wenn man
nicht um Worte streiten will.
**) Wegen dieses Puncts kann §. 90. meines Lehrbuchs der Psy-
chologie nachgesehen werden. Ich glaube nicht, alle Einzelnheiten aus
jenem Buche hier wiederhohlen zu müssen.

ches Leben führt, ist darum keinesweges gut und edel,
aber er ist gesund! Hierauf werde ich weiterhin, bey
den Betrachtungen über die Ausbildung der Maximen,
zurückkommen.

Am sichersten ist es ohne Zweifel, der Entstehung
von Leidenschaften vorzubeugen. Dazu ist aber nicht
bloſs die eigne Aufmerksamkeit des Menschen auf sich
selbst, sondern auch eine solche äuſsere Lage und Be-
handlung nöthig, die ihn vor heftigen Reizungen, und
vor dem Mangel des Unentbehrlichen schütze. Barbari-
sche Behandlung macht Barbaren! Man kennt die Schil-
derungen der heutigen Griechen. — Dagegen hat man
neuerlich die unerwartete Erfahrung gemacht, daſs selbst
reiſsende Thiere durch gute Pflege, welche ihren Bedürf-
nissen abhilft und zuvorkommt, sanftmüthig erhalten wer-
den können. Was hindert uns, anzunehmen, daſs die
Raubsucht des Tigers und der Hyäne eine Leidenschaft
sey, die aus unbefriedigtem heftigen Hunger entstand,
und alsdann habituel wurde? *) Wir sehen wenigstens,
daſs der Kettenhund, durch sein langes Leiden, eben so
wohl bösartig gemacht wird, als dies beym Menschen der
Fall seyn würde.

Dies erinnert an eine andre Aehnlichkeit zwischen
Menschen und Thieren in Ansehung des Tempera-
ments
**), welches auf Affecten und Leidenschaften ei-

*) Zwar hat man den Thieren die Leidenschaften abgesprochen;
z. B. Herr Hofrath Schulze, (Psychische Anthropologie S. 382.)
weil Hemmung des Verstandesgebrauchs ein wesentliches Merkmal der
Leidenschaften sey. Eher würde ich mich darauf berufen, daſs die
Vernünfteley, die wahnwitzige Ueberlegung des leidenschaftlichen Men-
schen, bey den Thieren fehle. Allein die Disposition zur Begierde,
die Reizbarkeit zum Affecte, findet sich doch vor; und die Abwesen-
heit eines negativen Merkmals dürfte wenig Gewicht haben, wenn man
nicht um Worte streiten will.
**) Wegen dieses Puncts kann §. 90. meines Lehrbuchs der Psy-
chologie nachgesehen werden. Ich glaube nicht, alle Einzelnheiten aus
jenem Buche hier wiederhohlen zu müssen.
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[117/0152] ches Leben führt, ist darum keinesweges gut und edel, aber er ist gesund! Hierauf werde ich weiterhin, bey den Betrachtungen über die Ausbildung der Maximen, zurückkommen. Am sichersten ist es ohne Zweifel, der Entstehung von Leidenschaften vorzubeugen. Dazu ist aber nicht bloſs die eigne Aufmerksamkeit des Menschen auf sich selbst, sondern auch eine solche äuſsere Lage und Be- handlung nöthig, die ihn vor heftigen Reizungen, und vor dem Mangel des Unentbehrlichen schütze. Barbari- sche Behandlung macht Barbaren! Man kennt die Schil- derungen der heutigen Griechen. — Dagegen hat man neuerlich die unerwartete Erfahrung gemacht, daſs selbst reiſsende Thiere durch gute Pflege, welche ihren Bedürf- nissen abhilft und zuvorkommt, sanftmüthig erhalten wer- den können. Was hindert uns, anzunehmen, daſs die Raubsucht des Tigers und der Hyäne eine Leidenschaft sey, die aus unbefriedigtem heftigen Hunger entstand, und alsdann habituel wurde? *) Wir sehen wenigstens, daſs der Kettenhund, durch sein langes Leiden, eben so wohl bösartig gemacht wird, als dies beym Menschen der Fall seyn würde. Dies erinnert an eine andre Aehnlichkeit zwischen Menschen und Thieren in Ansehung des Tempera- ments **), welches auf Affecten und Leidenschaften ei- *) Zwar hat man den Thieren die Leidenschaften abgesprochen; z. B. Herr Hofrath Schulze, (Psychische Anthropologie S. 382.) weil Hemmung des Verstandesgebrauchs ein wesentliches Merkmal der Leidenschaften sey. Eher würde ich mich darauf berufen, daſs die Vernünfteley, die wahnwitzige Ueberlegung des leidenschaftlichen Men- schen, bey den Thieren fehle. Allein die Disposition zur Begierde, die Reizbarkeit zum Affecte, findet sich doch vor; und die Abwesen- heit eines negativen Merkmals dürfte wenig Gewicht haben, wenn man nicht um Worte streiten will. **) Wegen dieses Puncts kann §. 90. meines Lehrbuchs der Psy- chologie nachgesehen werden. Ich glaube nicht, alle Einzelnheiten aus jenem Buche hier wiederhohlen zu müssen.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/152>, abgerufen am 22.11.2024.