noch dem Funken, sondern unserem Gefühle zuschrie- ben. Allein nun tritt die Verschiedenheit hervor. Unsre Vorstellung des Bildes lässt sich zerlegen in die ganze Summe ihrer Theil-Vorstellungen; aber von allen ein- zelnen gefärbten Puncten, die wir sahen, ist kein einzi- ger schön; also auch nicht ihre Summe, so lange sie bloss als Summe gesehen wird. Nun kann man aber wirklich das Bild sehen als eine blosse Summe sichtba- rer Stellen; und ohne Zweifel wird es also gesehen von Thieren, von Kindern, vom rohen Volke, das, wie man zu sagen pflegt, keinen Sinn hat für das Schöne. Und auch der Kenner muss einen Uebergang machen von dem Sehen des Aggregats von Farben zu dem Sehen des Schönen in dem Bilde; er muss sich die Verhältnisse erst herausheben, er muss der Vorstellung dieser Ver- hältnisse eine kleine Weile zu ihrer Ausbildung gönnen, ehe der Unterschied zwischen seinem Sehen und dem des Volkes fertig wird. Dieser Uebergang gleicht dem vom Subjecte zum Prädicate im ästhetischen Urtheile; jenes ist die blosse Materie des Wahrgenommenen, die- ses entspringt in der Auffassung der Form.
Was aber mag leichter seyn zu ergründen, das, was beym ästhetischen Urtheile, oder was bey den Gefühlen des Angenehmen und Unangenehmen in der Seele vor- geht? Offenbar das erste. Denn beym ästhetischen Ur- theile sind uns die Partial-Vorstellungen gegeben, die zusammen das Schöne ausmachen; auch können wir mit ihnen experimentiren, sie mannigfaltig abändern, und be- merken, wie dadurch das Schöne sich ins Schönere oder ins Hässliche verwandelt. -- Es giebt ja so einfache ästhetische Urteile, dass sich bey ihnen alles, was ihr Gegenstand ins Bewusstseyn bringt, der Rechnung un- terwerfen lässt; daher es möglich seyn muss, alles aufs vollständigste kennen zu lernen, was bey diesen Urthei- len in der Seele sich ereignet. Dieses sind bekanntlich die Grund-Urtheile der Musik, über das Consonirende oder Dissonirende zweyer und dreyer Töne.
II. H
noch dem Funken, sondern unserem Gefühle zuschrie- ben. Allein nun tritt die Verschiedenheit hervor. Unsre Vorstellung des Bildes läſst sich zerlegen in die ganze Summe ihrer Theil-Vorstellungen; aber von allen ein- zelnen gefärbten Puncten, die wir sahen, ist kein einzi- ger schön; also auch nicht ihre Summe, so lange sie bloſs als Summe gesehen wird. Nun kann man aber wirklich das Bild sehen als eine bloſse Summe sichtba- rer Stellen; und ohne Zweifel wird es also gesehen von Thieren, von Kindern, vom rohen Volke, das, wie man zu sagen pflegt, keinen Sinn hat für das Schöne. Und auch der Kenner muſs einen Uebergang machen von dem Sehen des Aggregats von Farben zu dem Sehen des Schönen in dem Bilde; er muſs sich die Verhältnisse erst herausheben, er muſs der Vorstellung dieser Ver- hältnisse eine kleine Weile zu ihrer Ausbildung gönnen, ehe der Unterschied zwischen seinem Sehen und dem des Volkes fertig wird. Dieser Uebergang gleicht dem vom Subjecte zum Prädicate im ästhetischen Urtheile; jenes ist die bloſse Materie des Wahrgenommenen, die- ses entspringt in der Auffassung der Form.
Was aber mag leichter seyn zu ergründen, das, was beym ästhetischen Urtheile, oder was bey den Gefühlen des Angenehmen und Unangenehmen in der Seele vor- geht? Offenbar das erste. Denn beym ästhetischen Ur- theile sind uns die Partial-Vorstellungen gegeben, die zusammen das Schöne ausmachen; auch können wir mit ihnen experimentiren, sie mannigfaltig abändern, und be- merken, wie dadurch das Schöne sich ins Schönere oder ins Häſsliche verwandelt. — Es giebt ja so einfache ästhetische Urteile, daſs sich bey ihnen alles, was ihr Gegenstand ins Bewuſstseyn bringt, der Rechnung un- terwerfen läſst; daher es möglich seyn muſs, alles aufs vollständigste kennen zu lernen, was bey diesen Urthei- len in der Seele sich ereignet. Dieses sind bekanntlich die Grund-Urtheile der Musik, über das Consonirende oder Dissonirende zweyer und dreyer Töne.
II. H
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0148"n="113"/>
noch dem Funken, sondern unserem Gefühle zuschrie-<lb/>
ben. Allein nun tritt die Verschiedenheit hervor. Unsre<lb/>
Vorstellung des Bildes läſst sich zerlegen in die ganze<lb/>
Summe ihrer Theil-Vorstellungen; aber von allen ein-<lb/>
zelnen gefärbten Puncten, die wir sahen, ist kein einzi-<lb/>
ger schön; also auch nicht ihre Summe, so lange sie<lb/>
bloſs als Summe gesehen wird. Nun kann man aber<lb/>
wirklich das Bild sehen als eine bloſse Summe sichtba-<lb/>
rer Stellen; und ohne Zweifel wird es also gesehen von<lb/>
Thieren, von Kindern, vom rohen Volke, das, wie man<lb/>
zu sagen pflegt, keinen Sinn hat für das Schöne. Und<lb/>
auch der Kenner muſs einen Uebergang machen von dem<lb/>
Sehen des Aggregats von Farben zu dem Sehen des<lb/>
Schönen in dem Bilde; er muſs sich die Verhältnisse<lb/>
erst herausheben, er muſs der Vorstellung dieser Ver-<lb/>
hältnisse eine kleine Weile zu ihrer Ausbildung gönnen,<lb/>
ehe der Unterschied zwischen seinem Sehen und dem<lb/>
des Volkes fertig wird. Dieser Uebergang gleicht dem<lb/>
vom Subjecte zum Prädicate im ästhetischen Urtheile;<lb/>
jenes ist die bloſse Materie des Wahrgenommenen, die-<lb/>
ses entspringt in der Auffassung der Form.</p><lb/><p>Was aber mag leichter seyn zu ergründen, das, was<lb/>
beym ästhetischen Urtheile, oder was bey den Gefühlen<lb/>
des Angenehmen und Unangenehmen in der Seele vor-<lb/>
geht? Offenbar das erste. Denn beym ästhetischen Ur-<lb/>
theile sind uns die Partial-Vorstellungen gegeben, die<lb/>
zusammen das Schöne ausmachen; auch können wir mit<lb/>
ihnen experimentiren, sie mannigfaltig abändern, und be-<lb/>
merken, wie dadurch das Schöne sich ins Schönere oder<lb/>
ins Häſsliche verwandelt. — Es giebt ja so einfache<lb/>
ästhetische Urteile, daſs sich bey ihnen alles, was ihr<lb/>
Gegenstand ins Bewuſstseyn bringt, der Rechnung un-<lb/>
terwerfen läſst; daher es möglich seyn muſs, alles aufs<lb/>
vollständigste kennen zu lernen, was bey diesen Urthei-<lb/>
len in der Seele sich ereignet. Dieses sind bekanntlich<lb/>
die Grund-Urtheile der Musik, über das Consonirende<lb/>
oder Dissonirende zweyer und dreyer Töne.</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#i">II.</hi> H</fw><lb/></div></div></div></div></body></text></TEI>
[113/0148]
noch dem Funken, sondern unserem Gefühle zuschrie-
ben. Allein nun tritt die Verschiedenheit hervor. Unsre
Vorstellung des Bildes läſst sich zerlegen in die ganze
Summe ihrer Theil-Vorstellungen; aber von allen ein-
zelnen gefärbten Puncten, die wir sahen, ist kein einzi-
ger schön; also auch nicht ihre Summe, so lange sie
bloſs als Summe gesehen wird. Nun kann man aber
wirklich das Bild sehen als eine bloſse Summe sichtba-
rer Stellen; und ohne Zweifel wird es also gesehen von
Thieren, von Kindern, vom rohen Volke, das, wie man
zu sagen pflegt, keinen Sinn hat für das Schöne. Und
auch der Kenner muſs einen Uebergang machen von dem
Sehen des Aggregats von Farben zu dem Sehen des
Schönen in dem Bilde; er muſs sich die Verhältnisse
erst herausheben, er muſs der Vorstellung dieser Ver-
hältnisse eine kleine Weile zu ihrer Ausbildung gönnen,
ehe der Unterschied zwischen seinem Sehen und dem
des Volkes fertig wird. Dieser Uebergang gleicht dem
vom Subjecte zum Prädicate im ästhetischen Urtheile;
jenes ist die bloſse Materie des Wahrgenommenen, die-
ses entspringt in der Auffassung der Form.
Was aber mag leichter seyn zu ergründen, das, was
beym ästhetischen Urtheile, oder was bey den Gefühlen
des Angenehmen und Unangenehmen in der Seele vor-
geht? Offenbar das erste. Denn beym ästhetischen Ur-
theile sind uns die Partial-Vorstellungen gegeben, die
zusammen das Schöne ausmachen; auch können wir mit
ihnen experimentiren, sie mannigfaltig abändern, und be-
merken, wie dadurch das Schöne sich ins Schönere oder
ins Häſsliche verwandelt. — Es giebt ja so einfache
ästhetische Urteile, daſs sich bey ihnen alles, was ihr
Gegenstand ins Bewuſstseyn bringt, der Rechnung un-
terwerfen läſst; daher es möglich seyn muſs, alles aufs
vollständigste kennen zu lernen, was bey diesen Urthei-
len in der Seele sich ereignet. Dieses sind bekanntlich
die Grund-Urtheile der Musik, über das Consonirende
oder Dissonirende zweyer und dreyer Töne.
II. H
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/148>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.