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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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mässig sie unter einander verknüpft sind, desto gewaltsa-
mer wirkt jede für sich allein, sobald sie aufgeregt ist;
und erweckt und erträgt nur diejenigen, welche, ohne sie
zu hemmen, mit ihr in Verbindung treten können. Man
vergleiche hier den §. 76. Was Wunder, dass wilde
Völkerschaften der Leidenschaftlichkeit unterliegen; dass
in der Barbarey gerade die Leidenschaften zuerst anfan-
gen verständig zu werden, indem die herrschenden, und
selbst nicht beherrschten Vorstellungen sich allmählig die
übrigen Vorstellungen unterwerfen, sie mit sich, und da-
durch sie unter einander verbinden, und sie nach sich
discipliniren?

Diesen Durchgang durch die Barbarey, dessen Ue-
bergang in wahre Cultur höchst unsicher, und keineswe-
ges nothwendig ist, erspart den Kindern gebildeter Men-
schen die Erziehung. Und eben darin unter anderm zeigt
sich die gute Erziehung der frühesten Jahre, dass sie
den Kindern die Leidenschaftlichkeit unmöglich macht,
indem sie jeder Spur davon sogleich Zwang entgegen-
setzt, und die ganze Masse der Vorstellungen schon
während des Entstehens in einen solchen Fluss bringt,
dass keine einzelne zu einer heftigen Aufregung gelan-
gen kann.

Was Wunder endlich, dass auch selbst die wahre
Cultur, dass die ächt moralische Gesinnung ihre Leiden-
schaften hat? Die Vorstellung der Gottheit, ja die abs-
tracte Vorstellung der Tugend, oder des Rechts, der
Freyheit, der Gleichheit, oder selbst jeder erste beste
theoretische Begriff irgend einer Wissenschaft, habe eine
vorzügliche Stärke erlangt; sey aber entweder gar nicht
oder schlecht verbunden mit den Begriffen von den ge-
sellschaftlichen Verhältnissen der einzelnen, wirklichen
Menschen unter einander: alsbald wird man sehen, wie
unvernünftig bey gegebener Gelegenheit die letztern ge-
mishandelt, wie ungestüm die erstern durchgesetzt, und
wie dabey den niedrigsten Affecten, diesen gewöhnlichen

mäſsig sie unter einander verknüpft sind, desto gewaltsa-
mer wirkt jede für sich allein, sobald sie aufgeregt ist;
und erweckt und erträgt nur diejenigen, welche, ohne sie
zu hemmen, mit ihr in Verbindung treten können. Man
vergleiche hier den §. 76. Was Wunder, daſs wilde
Völkerschaften der Leidenschaftlichkeit unterliegen; daſs
in der Barbarey gerade die Leidenschaften zuerst anfan-
gen verständig zu werden, indem die herrschenden, und
selbst nicht beherrschten Vorstellungen sich allmählig die
übrigen Vorstellungen unterwerfen, sie mit sich, und da-
durch sie unter einander verbinden, und sie nach sich
discipliniren?

Diesen Durchgang durch die Barbarey, dessen Ue-
bergang in wahre Cultur höchst unsicher, und keineswe-
ges nothwendig ist, erspart den Kindern gebildeter Men-
schen die Erziehung. Und eben darin unter anderm zeigt
sich die gute Erziehung der frühesten Jahre, daſs sie
den Kindern die Leidenschaftlichkeit unmöglich macht,
indem sie jeder Spur davon sogleich Zwang entgegen-
setzt, und die ganze Masse der Vorstellungen schon
während des Entstehens in einen solchen Fluſs bringt,
daſs keine einzelne zu einer heftigen Aufregung gelan-
gen kann.

Was Wunder endlich, daſs auch selbst die wahre
Cultur, daſs die ächt moralische Gesinnung ihre Leiden-
schaften hat? Die Vorstellung der Gottheit, ja die abs-
tracte Vorstellung der Tugend, oder des Rechts, der
Freyheit, der Gleichheit, oder selbst jeder erste beste
theoretische Begriff irgend einer Wissenschaft, habe eine
vorzügliche Stärke erlangt; sey aber entweder gar nicht
oder schlecht verbunden mit den Begriffen von den ge-
sellschaftlichen Verhältnissen der einzelnen, wirklichen
Menschen unter einander: alsbald wird man sehen, wie
unvernünftig bey gegebener Gelegenheit die letztern ge-
mishandelt, wie ungestüm die erstern durchgesetzt, und
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[108/0143] mäſsig sie unter einander verknüpft sind, desto gewaltsa- mer wirkt jede für sich allein, sobald sie aufgeregt ist; und erweckt und erträgt nur diejenigen, welche, ohne sie zu hemmen, mit ihr in Verbindung treten können. Man vergleiche hier den §. 76. Was Wunder, daſs wilde Völkerschaften der Leidenschaftlichkeit unterliegen; daſs in der Barbarey gerade die Leidenschaften zuerst anfan- gen verständig zu werden, indem die herrschenden, und selbst nicht beherrschten Vorstellungen sich allmählig die übrigen Vorstellungen unterwerfen, sie mit sich, und da- durch sie unter einander verbinden, und sie nach sich discipliniren? Diesen Durchgang durch die Barbarey, dessen Ue- bergang in wahre Cultur höchst unsicher, und keineswe- ges nothwendig ist, erspart den Kindern gebildeter Men- schen die Erziehung. Und eben darin unter anderm zeigt sich die gute Erziehung der frühesten Jahre, daſs sie den Kindern die Leidenschaftlichkeit unmöglich macht, indem sie jeder Spur davon sogleich Zwang entgegen- setzt, und die ganze Masse der Vorstellungen schon während des Entstehens in einen solchen Fluſs bringt, daſs keine einzelne zu einer heftigen Aufregung gelan- gen kann. Was Wunder endlich, daſs auch selbst die wahre Cultur, daſs die ächt moralische Gesinnung ihre Leiden- schaften hat? Die Vorstellung der Gottheit, ja die abs- tracte Vorstellung der Tugend, oder des Rechts, der Freyheit, der Gleichheit, oder selbst jeder erste beste theoretische Begriff irgend einer Wissenschaft, habe eine vorzügliche Stärke erlangt; sey aber entweder gar nicht oder schlecht verbunden mit den Begriffen von den ge- sellschaftlichen Verhältnissen der einzelnen, wirklichen Menschen unter einander: alsbald wird man sehen, wie unvernünftig bey gegebener Gelegenheit die letztern ge- mishandelt, wie ungestüm die erstern durchgesetzt, und wie dabey den niedrigsten Affecten, diesen gewöhnlichen

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/143>, abgerufen am 22.11.2024.