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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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3) Wenn eine Vorstellung sinkt: so ist ein Unter-
schied, ob sie ohne Weiteres den hemmenden Kräften
nachgiebt; oder ob sie, zwar sinkend, und vielleicht durch
immer zunehmende Hemmung fortgetrieben, doch durch
Verbindungen gehalten, oder durch neue Wahrnehmun-
gen verstärkt, noch zaudert, aus dem Bewusstseyn vol-
lends zu entweichen. Auch dieser Unterschied muss sich
im Gefühle verrathen; und überdies ist hieraus das Ver-
abscheuen
herzuleiten. Dieses ist eigentlich auch ein
Begehren; aber nicht ein Begehren, das in irgend einer
einzelnen, hervorragenden Vorstellung seinen Sitz hätte,
wie die Begierde im gewöhnlichen Sinne. Vielmehr liegt
es in dem ganzen Systeme zusammenwirkender Vorstel-
lungen; die sich wieder eine einzelne, sie alle drückende
Vorstellung, in Freyheit zu setzen streben, und die da-
mit aus irgend einem Grunde nicht sogleich zu Stande
kommen können. Begierde und Abscheu kommen darin
überein, dass in beyden gewisse Vorstellungen gegen ein-
ander drängen. Aber sie unterscheiden sich durch das
Object, das in ihnen am lebhaftesten vorgestellt wird.
In der Begierde ist die Vorstellung des begehrten
Gegenstandes
zugleich die lebhafteste und die herr-
schende; im Abscheu ist die einzelne Vorstellung
des verabscheuten Gegenstandes klärer als jede einzelne
der gegenwirkenden Vorstellungen; aber alle gegen-
wirkenden zusammengenommen
ergeben ein herr-
schendes Totalgefühl, und bilden eine Gesammtkraft,
durch deren Thätigkeit die Gemüthslage auf ähnliche
Art in einen continuirlichen Uebergang versetzt wird, wie
beym Begehren.

Zu allem diesem kommt nun noch

4) die ganze Mannigfaltigkeit solcher Gemüthszu-
stände, welche aus der Verschmelzung vor der Hem-
mung, oder dem dahin zielenden Streben, entspringen
müssen. Man vergleiche hier die §§. 71. und 72. Man
gehe ferner zurück zu §. 61; 66; und besonders zum
§. 87. Allein um hierüber deutlicher zu sprechen, ist

3) Wenn eine Vorstellung sinkt: so ist ein Unter-
schied, ob sie ohne Weiteres den hemmenden Kräften
nachgiebt; oder ob sie, zwar sinkend, und vielleicht durch
immer zunehmende Hemmung fortgetrieben, doch durch
Verbindungen gehalten, oder durch neue Wahrnehmun-
gen verstärkt, noch zaudert, aus dem Bewuſstseyn vol-
lends zu entweichen. Auch dieser Unterschied muſs sich
im Gefühle verrathen; und überdies ist hieraus das Ver-
abscheuen
herzuleiten. Dieses ist eigentlich auch ein
Begehren; aber nicht ein Begehren, das in irgend einer
einzelnen, hervorragenden Vorstellung seinen Sitz hätte,
wie die Begierde im gewöhnlichen Sinne. Vielmehr liegt
es in dem ganzen Systeme zusammenwirkender Vorstel-
lungen; die sich wieder eine einzelne, sie alle drückende
Vorstellung, in Freyheit zu setzen streben, und die da-
mit aus irgend einem Grunde nicht sogleich zu Stande
kommen können. Begierde und Abscheu kommen darin
überein, daſs in beyden gewisse Vorstellungen gegen ein-
ander drängen. Aber sie unterscheiden sich durch das
Object, das in ihnen am lebhaftesten vorgestellt wird.
In der Begierde ist die Vorstellung des begehrten
Gegenstandes
zugleich die lebhafteste und die herr-
schende; im Abscheu ist die einzelne Vorstellung
des verabscheuten Gegenstandes klärer als jede einzelne
der gegenwirkenden Vorstellungen; aber alle gegen-
wirkenden zusammengenommen
ergeben ein herr-
schendes Totalgefühl, und bilden eine Gesammtkraft,
durch deren Thätigkeit die Gemüthslage auf ähnliche
Art in einen continuirlichen Uebergang versetzt wird, wie
beym Begehren.

Zu allem diesem kommt nun noch

4) die ganze Mannigfaltigkeit solcher Gemüthszu-
stände, welche aus der Verschmelzung vor der Hem-
mung, oder dem dahin zielenden Streben, entspringen
müssen. Man vergleiche hier die §§. 71. und 72. Man
gehe ferner zurück zu §. 61; 66; und besonders zum
§. 87. Allein um hierüber deutlicher zu sprechen, ist

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[74/0109] 3) Wenn eine Vorstellung sinkt: so ist ein Unter- schied, ob sie ohne Weiteres den hemmenden Kräften nachgiebt; oder ob sie, zwar sinkend, und vielleicht durch immer zunehmende Hemmung fortgetrieben, doch durch Verbindungen gehalten, oder durch neue Wahrnehmun- gen verstärkt, noch zaudert, aus dem Bewuſstseyn vol- lends zu entweichen. Auch dieser Unterschied muſs sich im Gefühle verrathen; und überdies ist hieraus das Ver- abscheuen herzuleiten. Dieses ist eigentlich auch ein Begehren; aber nicht ein Begehren, das in irgend einer einzelnen, hervorragenden Vorstellung seinen Sitz hätte, wie die Begierde im gewöhnlichen Sinne. Vielmehr liegt es in dem ganzen Systeme zusammenwirkender Vorstel- lungen; die sich wieder eine einzelne, sie alle drückende Vorstellung, in Freyheit zu setzen streben, und die da- mit aus irgend einem Grunde nicht sogleich zu Stande kommen können. Begierde und Abscheu kommen darin überein, daſs in beyden gewisse Vorstellungen gegen ein- ander drängen. Aber sie unterscheiden sich durch das Object, das in ihnen am lebhaftesten vorgestellt wird. In der Begierde ist die Vorstellung des begehrten Gegenstandes zugleich die lebhafteste und die herr- schende; im Abscheu ist die einzelne Vorstellung des verabscheuten Gegenstandes klärer als jede einzelne der gegenwirkenden Vorstellungen; aber alle gegen- wirkenden zusammengenommen ergeben ein herr- schendes Totalgefühl, und bilden eine Gesammtkraft, durch deren Thätigkeit die Gemüthslage auf ähnliche Art in einen continuirlichen Uebergang versetzt wird, wie beym Begehren. Zu allem diesem kommt nun noch 4) die ganze Mannigfaltigkeit solcher Gemüthszu- stände, welche aus der Verschmelzung vor der Hem- mung, oder dem dahin zielenden Streben, entspringen müssen. Man vergleiche hier die §§. 71. und 72. Man gehe ferner zurück zu §. 61; 66; und besonders zum §. 87. Allein um hierüber deutlicher zu sprechen, ist

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/109>, abgerufen am 22.11.2024.