struction gegeben werden. Was mögen doch das für Bedingungen seyn, vermöge deren die selbstthätige trans- scendentale Einbildungskraft gewisse Auffassungen von Farben lieber in die Form eines Vierecks, als in die Form eines Cirkels bringt? Gegebene Bedingungen sind es ohne Zweifel; denn wir können nicht willkührli- cher Weise das Runde als viereckigt, oder das Vier- eckigte als rund anschauen. In der Form des Sinnes, dem Raume, kann der Grund des Unterschiedes nicht liegen, denn diese Form ist für alle sinnliche Anschauun- gen als Eine und dieselbe Bedingung vorhanden. Wenn nun etwa die Vorstellungen ihrem Stoffe nach von den Dingen an sich herrühren, wie sie denn in der Kant- schen Lehre ohne Zweifel thun: so müssen diese Dinge an sich, trotz dem, dass sie von Raum und Zeit nichts wissen, sich doch ausserordentlich genau auf diese Formen des innern Sinnes beziehen, damit ein Unterschied in jene figürliche synthetische Einheit hinein- komme. Wir erkennen also von den Dingen an sich, dass in ihnen gerade so viel Verschiedenheit Statt findet, als nöthig ist, um die mannigfaltigen Bedingungen her- zugeben, deren wir für die figürliche synthetische Einheit der Einbildungskraft in ihren bunten Abwechselungen bedürfen. Dieses wäre denn eine nicht unbedeutende Kenntniss von den Dingen an sich, welche die Kant'sche Lehre eben so wenig vermeiden, als leiden kann; und worüber sich die bessern Anhänger derselben längst hät- ten erklären sollen, wenn sie es vermöchten. Das Wahre an der Sache aber ist, dass diese ganze Theorie auch keine leiseste Ahndung der Gründe enthält, aus denen die Auffassungen des Räumlichen und Zeitlichen psycho- logisch erklärt werden müssen. Nicht einmal das Pro- blem ist hier vollständig aufgefasst; denn es fragt sich eben so sehr, was für Bedingungen uns bestimmen, ei- ner Substanz gerade solche und keine andern Eigenschaf- ten zusammengenommen anzuweisen; z. B. dem Wasser die Flüssigkeit neben der Durchsichtigkeit; dem Queck-
struction gegeben werden. Was mögen doch das für Bedingungen seyn, vermöge deren die selbstthätige trans- scendentale Einbildungskraft gewisse Auffassungen von Farben lieber in die Form eines Vierecks, als in die Form eines Cirkels bringt? Gegebene Bedingungen sind es ohne Zweifel; denn wir können nicht willkührli- cher Weise das Runde als viereckigt, oder das Vier- eckigte als rund anschauen. In der Form des Sinnes, dem Raume, kann der Grund des Unterschiedes nicht liegen, denn diese Form ist für alle sinnliche Anschauun- gen als Eine und dieselbe Bedingung vorhanden. Wenn nun etwa die Vorstellungen ihrem Stoffe nach von den Dingen an sich herrühren, wie sie denn in der Kant- schen Lehre ohne Zweifel thun: so müssen diese Dinge an sich, trotz dem, daſs sie von Raum und Zeit nichts wissen, sich doch auſserordentlich genau auf diese Formen des innern Sinnes beziehen, damit ein Unterschied in jene figürliche synthetische Einheit hinein- komme. Wir erkennen also von den Dingen an sich, daſs in ihnen gerade so viel Verschiedenheit Statt findet, als nöthig ist, um die mannigfaltigen Bedingungen her- zugeben, deren wir für die figürliche synthetische Einheit der Einbildungskraft in ihren bunten Abwechselungen bedürfen. Dieses wäre denn eine nicht unbedeutende Kenntniſs von den Dingen an sich, welche die Kant’sche Lehre eben so wenig vermeiden, als leiden kann; und worüber sich die bessern Anhänger derselben längst hät- ten erklären sollen, wenn sie es vermöchten. Das Wahre an der Sache aber ist, daſs diese ganze Theorie auch keine leiseste Ahndung der Gründe enthält, aus denen die Auffassungen des Räumlichen und Zeitlichen psycho- logisch erklärt werden müssen. Nicht einmal das Pro- blem ist hier vollständig aufgefaſst; denn es fragt sich eben so sehr, was für Bedingungen uns bestimmen, ei- ner Substanz gerade solche und keine andern Eigenschaf- ten zusammengenommen anzuweisen; z. B. dem Wasser die Flüssigkeit neben der Durchsichtigkeit; dem Queck-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><hirendition="#g"><pbfacs="#f0089"n="69"/>
struction</hi> gegeben werden. Was mögen doch das für<lb/>
Bedingungen seyn, vermöge deren die selbstthätige trans-<lb/>
scendentale Einbildungskraft gewisse Auffassungen von<lb/>
Farben lieber in die Form eines Vierecks, als in die<lb/>
Form eines Cirkels bringt? <hirendition="#g">Gegebene</hi> Bedingungen<lb/>
sind es ohne Zweifel; denn wir können nicht willkührli-<lb/>
cher Weise das Runde als viereckigt, oder das Vier-<lb/>
eckigte als rund anschauen. In der Form des Sinnes,<lb/>
dem Raume, kann der Grund des Unterschiedes nicht<lb/>
liegen, denn diese Form ist für alle sinnliche Anschauun-<lb/>
gen als Eine und dieselbe Bedingung vorhanden. Wenn<lb/>
nun etwa die Vorstellungen ihrem Stoffe nach von den<lb/><hirendition="#g">Dingen an sich</hi> herrühren, wie sie denn in der <hirendition="#g">Kant</hi>-<lb/>
schen Lehre ohne Zweifel thun: so müssen diese Dinge<lb/>
an sich, trotz dem, daſs sie von Raum und Zeit nichts<lb/>
wissen, sich doch <hirendition="#g">auſserordentlich genau auf diese<lb/>
Formen des innern Sinnes beziehen</hi>, damit ein<lb/>
Unterschied in jene figürliche synthetische Einheit hinein-<lb/>
komme. Wir erkennen also von den Dingen an sich,<lb/>
daſs in ihnen gerade so viel Verschiedenheit Statt findet,<lb/>
als nöthig ist, um die mannigfaltigen Bedingungen her-<lb/>
zugeben, deren wir für die figürliche synthetische Einheit<lb/>
der Einbildungskraft in ihren bunten Abwechselungen<lb/>
bedürfen. Dieses wäre denn eine nicht unbedeutende<lb/>
Kenntniſs von den Dingen an sich, welche die <hirendition="#g">Kant’s</hi>che<lb/>
Lehre eben so wenig vermeiden, als leiden kann; und<lb/>
worüber sich die bessern Anhänger derselben längst hät-<lb/>
ten erklären sollen, wenn sie es vermöchten. Das Wahre<lb/>
an der Sache aber ist, daſs diese ganze Theorie auch<lb/>
keine leiseste Ahndung der Gründe enthält, aus denen<lb/>
die Auffassungen des Räumlichen und Zeitlichen psycho-<lb/>
logisch erklärt werden müssen. Nicht einmal das Pro-<lb/>
blem ist hier vollständig aufgefaſst; denn es fragt sich<lb/>
eben so sehr, was für Bedingungen uns bestimmen, ei-<lb/>
ner Substanz gerade solche und keine andern Eigenschaf-<lb/>
ten zusammengenommen anzuweisen; z. B. dem Wasser<lb/>
die Flüssigkeit neben der Durchsichtigkeit; dem Queck-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[69/0089]
struction gegeben werden. Was mögen doch das für
Bedingungen seyn, vermöge deren die selbstthätige trans-
scendentale Einbildungskraft gewisse Auffassungen von
Farben lieber in die Form eines Vierecks, als in die
Form eines Cirkels bringt? Gegebene Bedingungen
sind es ohne Zweifel; denn wir können nicht willkührli-
cher Weise das Runde als viereckigt, oder das Vier-
eckigte als rund anschauen. In der Form des Sinnes,
dem Raume, kann der Grund des Unterschiedes nicht
liegen, denn diese Form ist für alle sinnliche Anschauun-
gen als Eine und dieselbe Bedingung vorhanden. Wenn
nun etwa die Vorstellungen ihrem Stoffe nach von den
Dingen an sich herrühren, wie sie denn in der Kant-
schen Lehre ohne Zweifel thun: so müssen diese Dinge
an sich, trotz dem, daſs sie von Raum und Zeit nichts
wissen, sich doch auſserordentlich genau auf diese
Formen des innern Sinnes beziehen, damit ein
Unterschied in jene figürliche synthetische Einheit hinein-
komme. Wir erkennen also von den Dingen an sich,
daſs in ihnen gerade so viel Verschiedenheit Statt findet,
als nöthig ist, um die mannigfaltigen Bedingungen her-
zugeben, deren wir für die figürliche synthetische Einheit
der Einbildungskraft in ihren bunten Abwechselungen
bedürfen. Dieses wäre denn eine nicht unbedeutende
Kenntniſs von den Dingen an sich, welche die Kant’sche
Lehre eben so wenig vermeiden, als leiden kann; und
worüber sich die bessern Anhänger derselben längst hät-
ten erklären sollen, wenn sie es vermöchten. Das Wahre
an der Sache aber ist, daſs diese ganze Theorie auch
keine leiseste Ahndung der Gründe enthält, aus denen
die Auffassungen des Räumlichen und Zeitlichen psycho-
logisch erklärt werden müssen. Nicht einmal das Pro-
blem ist hier vollständig aufgefaſst; denn es fragt sich
eben so sehr, was für Bedingungen uns bestimmen, ei-
ner Substanz gerade solche und keine andern Eigenschaf-
ten zusammengenommen anzuweisen; z. B. dem Wasser
die Flüssigkeit neben der Durchsichtigkeit; dem Queck-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/89>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.