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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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vester auf seine unmittelbare gesunde Ansicht aller Dinge,
als auf irgend eine schulmässige Untersuchung; wie weit
er darin geht, sieht man unter andern aus seinen harten
Erklärungen gegen die Syllogismen *). Ihm konnte es
daher am wenigsten in den Sinn kommen, sich die Frage:
wie macht man es, das Erkenntnissvermögen zu
erkennen
, ernsthaft vorzulegen; denn die Reflexion, der
Blick in sich selbst, schien ihm diejenige Erkenntnissart
zu seyn, über welcher eine zuverlässigere sich gar nicht
denken lasse. Er traute also der innern Wahrnehmung
geradehin; und hätte sich z. B. nie einfallen lassen, die
Verstandesbegriffe aus den logischen Functionen im Ur-
theilen erst noch ableiten zu wollen. Er hatte auch
keinen kategorischen Imperativ; sondern der Satz: no in-
nate practical principles!
gehörte wesentlich zu seiner gan-
zen Ansicht. Worin das Wesen des Geistes bestehe,
wiefern unsre Gedanken von der Materie abhängen, sind
ihm: speculations, which, however curious and entertaining,
I shall decline, as lying out of my way
. So sprechen die
Weltleute; aber nur ein Mann von Locke's ernstem,
wahrheitliebendem, frommen Charakter, konnte sich ein
Geschäfft daraus machen, durch ausführliche Musterung
unsers ganzen Gedankenvorraths diejenigen Warnungen
gegen die Speculation zu unterstützen, welche Andre leicht
angedeutet und lächelnd hinzuwerfen pflegen. So ent-
stand seine Vernunftkritik, und in ihr passen Form und
Inhalt, Principien, Methoden und Resultate vollkommen
wohl zusammen. Will man sich über sie erheben, so ist
zu wünschen, dass man es ganz thue, -- dass man vor
allen Dingen die Unzulänglichkeit der innern Wahrneh-
mung, welche zu jeder Vernunftkritik das Object der Un-
tersuchung herbeyschaffen muss, vollständig erwäge.

*) Book IV. Chap. XVII. §. 4. Their chief and main use is
in the schools, where men are allowed without shame to deny the
agreement of ideas, that do manifestly agree etc.
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vester auf seine unmittelbare gesunde Ansicht aller Dinge,
als auf irgend eine schulmäſsige Untersuchung; wie weit
er darin geht, sieht man unter andern aus seinen harten
Erklärungen gegen die Syllogismen *). Ihm konnte es
daher am wenigsten in den Sinn kommen, sich die Frage:
wie macht man es, das Erkenntniſsvermögen zu
erkennen
, ernsthaft vorzulegen; denn die Reflexion, der
Blick in sich selbst, schien ihm diejenige Erkenntniſsart
zu seyn, über welcher eine zuverlässigere sich gar nicht
denken lasse. Er traute also der innern Wahrnehmung
geradehin; und hätte sich z. B. nie einfallen lassen, die
Verstandesbegriffe aus den logischen Functionen im Ur-
theilen erst noch ableiten zu wollen. Er hatte auch
keinen kategorischen Imperativ; sondern der Satz: no in-
nate practical principles!
gehörte wesentlich zu seiner gan-
zen Ansicht. Worin das Wesen des Geistes bestehe,
wiefern unsre Gedanken von der Materie abhängen, sind
ihm: speculations, which, however curious and entertaining,
I shall decline, as lying out of my way
. So sprechen die
Weltleute; aber nur ein Mann von Locke’s ernstem,
wahrheitliebendem, frommen Charakter, konnte sich ein
Geschäfft daraus machen, durch ausführliche Musterung
unsers ganzen Gedankenvorraths diejenigen Warnungen
gegen die Speculation zu unterstützen, welche Andre leicht
angedeutet und lächelnd hinzuwerfen pflegen. So ent-
stand seine Vernunftkritik, und in ihr passen Form und
Inhalt, Principien, Methoden und Resultate vollkommen
wohl zusammen. Will man sich über sie erheben, so ist
zu wünschen, daſs man es ganz thue, — daſs man vor
allen Dingen die Unzulänglichkeit der innern Wahrneh-
mung, welche zu jeder Vernunftkritik das Object der Un-
tersuchung herbeyschaffen muſs, vollständig erwäge.

*) Book IV. Chap. XVII. §. 4. Their chief and main use is
in the schools, where men are allowed without shame to deny the
agreement of ideas, that do manifestly agree etc.
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[51/0071] vester auf seine unmittelbare gesunde Ansicht aller Dinge, als auf irgend eine schulmäſsige Untersuchung; wie weit er darin geht, sieht man unter andern aus seinen harten Erklärungen gegen die Syllogismen *). Ihm konnte es daher am wenigsten in den Sinn kommen, sich die Frage: wie macht man es, das Erkenntniſsvermögen zu erkennen, ernsthaft vorzulegen; denn die Reflexion, der Blick in sich selbst, schien ihm diejenige Erkenntniſsart zu seyn, über welcher eine zuverlässigere sich gar nicht denken lasse. Er traute also der innern Wahrnehmung geradehin; und hätte sich z. B. nie einfallen lassen, die Verstandesbegriffe aus den logischen Functionen im Ur- theilen erst noch ableiten zu wollen. Er hatte auch keinen kategorischen Imperativ; sondern der Satz: no in- nate practical principles! gehörte wesentlich zu seiner gan- zen Ansicht. Worin das Wesen des Geistes bestehe, wiefern unsre Gedanken von der Materie abhängen, sind ihm: speculations, which, however curious and entertaining, I shall decline, as lying out of my way. So sprechen die Weltleute; aber nur ein Mann von Locke’s ernstem, wahrheitliebendem, frommen Charakter, konnte sich ein Geschäfft daraus machen, durch ausführliche Musterung unsers ganzen Gedankenvorraths diejenigen Warnungen gegen die Speculation zu unterstützen, welche Andre leicht angedeutet und lächelnd hinzuwerfen pflegen. So ent- stand seine Vernunftkritik, und in ihr passen Form und Inhalt, Principien, Methoden und Resultate vollkommen wohl zusammen. Will man sich über sie erheben, so ist zu wünschen, daſs man es ganz thue, — daſs man vor allen Dingen die Unzulänglichkeit der innern Wahrneh- mung, welche zu jeder Vernunftkritik das Object der Un- tersuchung herbeyschaffen muſs, vollständig erwäge. *) Book IV. Chap. XVII. §. 4. Their chief and main use is in the schools, where men are allowed without shame to deny the agreement of ideas, that do manifestly agree etc. D 2

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/71>, abgerufen am 23.11.2024.