enthalten sey. Dieses nun ist meine Behauptung, und das gegenwärtige Buch, in Verbindung mit der allgemei- nen Metaphysik, soll den Beweis davon führen.
Ich behaupte dem gemäss ferner, dass Locke und Leibniz in dem Puncte, von wo ihre Streitigkeit aus- ging, beyde Recht hatten; und nur in so fern Unrecht, als sie ihre Meinungen nicht zu vereinigen wussten.
Locke hat vollkommen Recht, die Seele eine ta- bula rasa zu nennen; Leibniz ihm gegenüber Unrecht, wenn er die Seele einer mit Adern durchwachsenen Mar- morplatte vergleicht. Hinwiederum Leibniz hat voll- kommen Recht, wenn er (im Anfange des zweyten Buchs der nouveaux essays) dem Satze: nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, die Erinnerung beyfügt: nisi ipse intellectus. Nur dass in diesem intellectus nichts Präfor- mirtes, von welcher Art es immer sey, angenommen werde! Die blosse Einheit der Seele, welche nicht einmal eine Eigenschaft derselben, sondern nur eine Bestimmung unseres Begriffs von der Seele ist, -- diese reicht hin, alles das zu erklären, was Leibniz aus der Erfahrung nicht wollte abgeleitet wissen.
An dem Locke'schen Werke aber müssen wir noch eine Hauptseite auffassen; gerade die, worüber er selbst gleich im Anfange sich am ausführlichsten und nachdrück- lichsten erklärt. Den ersten Antrieb zu seiner Arbeit hat er in dem Gedanken gefunden, dass wir überlegen müs- sen, wie weit unsre erkennenden Kräfte rei- chen, ehe wir uns auf den weiten Ocean der Dinge wa- gen dürfen; und dass wir unsre Aussicht und Hoffnung auf Erkenntniss nach unsern Fähigkeiten zu beschränken haben. Ursprung, Gewissheit und Ausdehnung der mensch- lichen Erkenntniss, das ist's was Locke ermessen will. Ein solches Unternehmen sind wir heutiges Tages ge- wohnt eine Vernunftkritik zu nennen. Aber es ist weit leichter zu begreifen, wie Locke, als wie Kant seinen philosophischen Nachforschungen eine solche Form geben konnte. Locke, der Weltmann, verliess sich weit
enthalten sey. Dieses nun ist meine Behauptung, und das gegenwärtige Buch, in Verbindung mit der allgemei- nen Metaphysik, soll den Beweis davon führen.
Ich behaupte dem gemäſs ferner, daſs Locke und Leibniz in dem Puncte, von wo ihre Streitigkeit aus- ging, beyde Recht hatten; und nur in so fern Unrecht, als sie ihre Meinungen nicht zu vereinigen wuſsten.
Locke hat vollkommen Recht, die Seele eine ta- bula rasa zu nennen; Leibniz ihm gegenüber Unrecht, wenn er die Seele einer mit Adern durchwachsenen Mar- morplatte vergleicht. Hinwiederum Leibniz hat voll- kommen Recht, wenn er (im Anfange des zweyten Buchs der nouveaux essays) dem Satze: nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, die Erinnerung beyfügt: nisi ipse intellectus. Nur daſs in diesem intellectus nichts Präfor- mirtes, von welcher Art es immer sey, angenommen werde! Die bloſse Einheit der Seele, welche nicht einmal eine Eigenschaft derselben, sondern nur eine Bestimmung unseres Begriffs von der Seele ist, — diese reicht hin, alles das zu erklären, was Leibniz aus der Erfahrung nicht wollte abgeleitet wissen.
An dem Locke’schen Werke aber müssen wir noch eine Hauptseite auffassen; gerade die, worüber er selbst gleich im Anfange sich am ausführlichsten und nachdrück- lichsten erklärt. Den ersten Antrieb zu seiner Arbeit hat er in dem Gedanken gefunden, daſs wir überlegen müs- sen, wie weit unsre erkennenden Kräfte rei- chen, ehe wir uns auf den weiten Ocean der Dinge wa- gen dürfen; und daſs wir unsre Aussicht und Hoffnung auf Erkenntniſs nach unsern Fähigkeiten zu beschränken haben. Ursprung, Gewiſsheit und Ausdehnung der mensch- lichen Erkenntniſs, das ist’s was Locke ermessen will. Ein solches Unternehmen sind wir heutiges Tages ge- wohnt eine Vernunftkritik zu nennen. Aber es ist weit leichter zu begreifen, wie Locke, als wie Kant seinen philosophischen Nachforschungen eine solche Form geben konnte. Locke, der Weltmann, verlieſs sich weit
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enthalten sey. Dieses nun ist meine Behauptung, und
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nen Metaphysik, soll den Beweis davon führen.
Ich behaupte dem gemäſs ferner, daſs Locke und
Leibniz in dem Puncte, von wo ihre Streitigkeit aus-
ging, beyde Recht hatten; und nur in so fern Unrecht,
als sie ihre Meinungen nicht zu vereinigen wuſsten.
Locke hat vollkommen Recht, die Seele eine ta-
bula rasa zu nennen; Leibniz ihm gegenüber Unrecht,
wenn er die Seele einer mit Adern durchwachsenen Mar-
morplatte vergleicht. Hinwiederum Leibniz hat voll-
kommen Recht, wenn er (im Anfange des zweyten Buchs
der nouveaux essays) dem Satze: nihil est in intellectu, quod
non fuerit in sensu, die Erinnerung beyfügt: nisi ipse
intellectus. Nur daſs in diesem intellectus nichts Präfor-
mirtes, von welcher Art es immer sey, angenommen
werde! Die bloſse Einheit der Seele, welche nicht einmal
eine Eigenschaft derselben, sondern nur eine Bestimmung
unseres Begriffs von der Seele ist, — diese reicht hin,
alles das zu erklären, was Leibniz aus der Erfahrung
nicht wollte abgeleitet wissen.
An dem Locke’schen Werke aber müssen wir noch
eine Hauptseite auffassen; gerade die, worüber er selbst
gleich im Anfange sich am ausführlichsten und nachdrück-
lichsten erklärt. Den ersten Antrieb zu seiner Arbeit hat
er in dem Gedanken gefunden, daſs wir überlegen müs-
sen, wie weit unsre erkennenden Kräfte rei-
chen, ehe wir uns auf den weiten Ocean der Dinge wa-
gen dürfen; und daſs wir unsre Aussicht und Hoffnung
auf Erkenntniſs nach unsern Fähigkeiten zu beschränken
haben. Ursprung, Gewiſsheit und Ausdehnung der mensch-
lichen Erkenntniſs, das ist’s was Locke ermessen will.
Ein solches Unternehmen sind wir heutiges Tages ge-
wohnt eine Vernunftkritik zu nennen. Aber es ist
weit leichter zu begreifen, wie Locke, als wie Kant
seinen philosophischen Nachforschungen eine solche Form
geben konnte. Locke, der Weltmann, verlieſs sich weit
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/70>, abgerufen am 24.11.2024.
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