Versuche veranlasst hat, der Metaphysik eine psychologi- sche Grundlage zu geben.
Um sich hierin desto leichter zu finden: bemerke man, dass ursprünglich die Metaphysik von Naturbetrach- tungen anhebt, dass sie dabey sogleich auf die Unzuverläs- sigkeit und Undankbarkeit der sinnlichen Erfahrung sto- ssen muss, dass es ihr aber nicht so leicht wird, das Bes- sere an die Stelle zu setzen. Nachdem die ältesten Phi- losophen bald, mit Heraklit, ein absolutes Werden; bald, mit den Eleaten, ein absolutes Seyn; bald, mit Leukipp, das Volle und das Leere und die kleinsten Körperchen; bald, mit den Pythagoräern, die Zahlen, oder mit Platon, die Ideen zum Grunde gelegt hatten: wuchs immer mehr der Verdacht heran, den die Sophisten aussprachen, den Sokrates begünstigte, den die Akademiker und Skeptiker fortdauernd ernährten, dass nämlich jene älteren in eine Tiefe hätten blicken wollen, wo hinein das menschliche Auge nicht reiche; und dass die eigentliche Weisheit darin bestehe, die Schranken unserer Erkenntniss wohl einzu- sehen *). Hierin nun liegt offenbar schon die Weisung, erst das: quid valeant humeri, quid ferre recusent, zu er- wägen, das heisst, erst das Vermögen unserer Erkennt- niss genau zu schätzen, ehe man sich in Untersuchungen über die Natur der Dinge verliere. Und was ist natür- licher, als dass man über einem Sprunge, über einer Ver- nachlässigung des Zunächstliegenden, sich zu ertappen glaube, wenn man bemerkt, man habe in den Sternen geforscht, ohne das eigne Herz zu kennen?
Nichts destoweniger ist unsre Kenntniss der Himmels- Mechanik gegenwärtig ohne Vergleich vollkommner, als die Kenntniss des Gesetzmässigen in unserm Innern.
*) In Hinsicht der Sophisten ist hoffentlich nicht nöthig, die Hauptsätze des Gorgias und Protagoras hier anzuführen; welche in der That auf das angegebene Resultat hinauslaufen, so weit auch übrigens ihre Lehrart von der des Sokrates entfernt war. Das: panton khrema- ton metron anthropos, ist eigentlich eine Ermahnung, alles Wissen sey relativ und subjectiv.
Versuche veranlaſst hat, der Metaphysik eine psychologi- sche Grundlage zu geben.
Um sich hierin desto leichter zu finden: bemerke man, daſs ursprünglich die Metaphysik von Naturbetrach- tungen anhebt, daſs sie dabey sogleich auf die Unzuverläs- sigkeit und Undankbarkeit der sinnlichen Erfahrung sto- ſsen muſs, daſs es ihr aber nicht so leicht wird, das Bes- sere an die Stelle zu setzen. Nachdem die ältesten Phi- losophen bald, mit Heraklit, ein absolutes Werden; bald, mit den Eleaten, ein absolutes Seyn; bald, mit Leukipp, das Volle und das Leere und die kleinsten Körperchen; bald, mit den Pythagoräern, die Zahlen, oder mit Platon, die Ideen zum Grunde gelegt hatten: wuchs immer mehr der Verdacht heran, den die Sophisten aussprachen, den Sokrates begünstigte, den die Akademiker und Skeptiker fortdauernd ernährten, daſs nämlich jene älteren in eine Tiefe hätten blicken wollen, wo hinein das menschliche Auge nicht reiche; und daſs die eigentliche Weisheit darin bestehe, die Schranken unserer Erkenntniſs wohl einzu- sehen *). Hierin nun liegt offenbar schon die Weisung, erst das: quid valeant humeri, quid ferre recusent, zu er- wägen, das heiſst, erst das Vermögen unserer Erkennt- niſs genau zu schätzen, ehe man sich in Untersuchungen über die Natur der Dinge verliere. Und was ist natür- licher, als daſs man über einem Sprunge, über einer Ver- nachlässigung des Zunächstliegenden, sich zu ertappen glaube, wenn man bemerkt, man habe in den Sternen geforscht, ohne das eigne Herz zu kennen?
Nichts destoweniger ist unsre Kenntniſs der Himmels- Mechanik gegenwärtig ohne Vergleich vollkommner, als die Kenntniſs des Gesetzmäſsigen in unserm Innern.
*) In Hinsicht der Sophisten ist hoffentlich nicht nöthig, die Hauptsätze des Gorgias und Protagoras hier anzuführen; welche in der That auf das angegebene Resultat hinauslaufen, so weit auch übrigens ihre Lehrart von der des Sokrates entfernt war. Das: παντων χρημα- των μετρον ανϑρωπος, ist eigentlich eine Ermahnung, alles Wissen sey relativ und subjectiv.
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Versuche veranlaſst hat, der Metaphysik eine psychologi-
sche Grundlage zu geben.
Um sich hierin desto leichter zu finden: bemerke
man, daſs ursprünglich die Metaphysik von Naturbetrach-
tungen anhebt, daſs sie dabey sogleich auf die Unzuverläs-
sigkeit und Undankbarkeit der sinnlichen Erfahrung sto-
ſsen muſs, daſs es ihr aber nicht so leicht wird, das Bes-
sere an die Stelle zu setzen. Nachdem die ältesten Phi-
losophen bald, mit Heraklit, ein absolutes Werden; bald,
mit den Eleaten, ein absolutes Seyn; bald, mit Leukipp,
das Volle und das Leere und die kleinsten Körperchen;
bald, mit den Pythagoräern, die Zahlen, oder mit Platon,
die Ideen zum Grunde gelegt hatten: wuchs immer mehr
der Verdacht heran, den die Sophisten aussprachen, den
Sokrates begünstigte, den die Akademiker und Skeptiker
fortdauernd ernährten, daſs nämlich jene älteren in eine
Tiefe hätten blicken wollen, wo hinein das menschliche
Auge nicht reiche; und daſs die eigentliche Weisheit darin
bestehe, die Schranken unserer Erkenntniſs wohl einzu-
sehen *). Hierin nun liegt offenbar schon die Weisung,
erst das: quid valeant humeri, quid ferre recusent, zu er-
wägen, das heiſst, erst das Vermögen unserer Erkennt-
niſs genau zu schätzen, ehe man sich in Untersuchungen
über die Natur der Dinge verliere. Und was ist natür-
licher, als daſs man über einem Sprunge, über einer Ver-
nachlässigung des Zunächstliegenden, sich zu ertappen
glaube, wenn man bemerkt, man habe in den Sternen
geforscht, ohne das eigne Herz zu kennen?
Nichts destoweniger ist unsre Kenntniſs der Himmels-
Mechanik gegenwärtig ohne Vergleich vollkommner,
als die Kenntniſs des Gesetzmäſsigen in unserm Innern.
*) In Hinsicht der Sophisten ist hoffentlich nicht nöthig, die
Hauptsätze des Gorgias und Protagoras hier anzuführen; welche in der
That auf das angegebene Resultat hinauslaufen, so weit auch übrigens
ihre Lehrart von der des Sokrates entfernt war. Das: παντων χρημα-
των μετρον ανϑρωπος, ist eigentlich eine Ermahnung, alles Wissen sey
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/61>, abgerufen am 24.07.2024.
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