Kant begann ein preiswürdiges Unternehmen, indem er den frühern Dogmatismus durch Kritik des Erkennt- nissvermögens, -- das heisst: durch die Frage nach der Möglichkeit des Erkennens, -- erschütterte, und neue Anstrengungen des Denkens hervorrief. Aber in so fern er damit ein neues System begründen wollte, fehlte es ihm selbst am Grunde und Boden. Dem starken Geiste fehlten die nothwendigen Hülfsmittel und Vorarbeiten.
Es liegt mir ob, im zweyten Theile dieses Werks die Möglichkeit des Erkennens aus psychologischen Prin- cipien zu erklären und zu begränzen. Dort aber wird sich diese Absicht meiner Bemühungen vielleicht zu sehr unter den übrigen verlieren; daher, und um einigen Le- sern mehr Anknüpfungspuncte darzubieten, will ich hier noch anhangsweise einige Bemerkungen über die Kant- sche Lehre, sofern sie Kritik seyn soll, hinzufügen. Da- bey könnte ich mich auf den Erfolg berufen, und diesen gegen Kant gelten machen. Die Sätze, dass Räumliches und Zeitliches blosse Erscheinung, Substanzen und Ursa- chen nur unsre Gedanken, Einheit und Regierung der Welt nur Ideen der Vernunft seyen, haben bekanntlich die Nachfolger verleitet, sich die Welt a priori zu con- struiren; und sich in sich selbst zu versenken, um die Dinge wie sie sind, aus der Idee hervorgehen zu lassen. Diese ganz unkritische Art zu philosophiren setze ich fürs erste bey Seite, denn sie war nicht Kants Absicht, der vielmehr das Wissen vom Glauben trennen, und es auf Erfahrung beschränken wollte. Was aber mich eigent- lich beschäfftigt, das ist das Unkritische der Kantschen Kritik selbst.
Kann man das Erkenntnissvermögen kritisiren, wenn man den Process des Erkennens ganz und gar ver- kennt? wenn man nicht einmal nach diesem Processe fragt; wenn man unterlässt, die Nachforschung auf ihn zu richten?
"Was sind Raum und Zeit?" So stellt Kant die Frage seiner transscendentalen Aesthetik. Er macht also
Kant begann ein preiswürdiges Unternehmen, indem er den frühern Dogmatismus durch Kritik des Erkennt- niſsvermögens, — das heiſst: durch die Frage nach der Möglichkeit des Erkennens, — erschütterte, und neue Anstrengungen des Denkens hervorrief. Aber in so fern er damit ein neues System begründen wollte, fehlte es ihm selbst am Grunde und Boden. Dem starken Geiste fehlten die nothwendigen Hülfsmittel und Vorarbeiten.
Es liegt mir ob, im zweyten Theile dieses Werks die Möglichkeit des Erkennens aus psychologischen Prin- cipien zu erklären und zu begränzen. Dort aber wird sich diese Absicht meiner Bemühungen vielleicht zu sehr unter den übrigen verlieren; daher, und um einigen Le- sern mehr Anknüpfungspuncte darzubieten, will ich hier noch anhangsweise einige Bemerkungen über die Kant- sche Lehre, sofern sie Kritik seyn soll, hinzufügen. Da- bey könnte ich mich auf den Erfolg berufen, und diesen gegen Kant gelten machen. Die Sätze, daſs Räumliches und Zeitliches bloſse Erscheinung, Substanzen und Ursa- chen nur unsre Gedanken, Einheit und Regierung der Welt nur Ideen der Vernunft seyen, haben bekanntlich die Nachfolger verleitet, sich die Welt a priori zu con- struiren; und sich in sich selbst zu versenken, um die Dinge wie sie sind, aus der Idee hervorgehen zu lassen. Diese ganz unkritische Art zu philosophiren setze ich fürs erste bey Seite, denn sie war nicht Kants Absicht, der vielmehr das Wissen vom Glauben trennen, und es auf Erfahrung beschränken wollte. Was aber mich eigent- lich beschäfftigt, das ist das Unkritische der Kantschen Kritik selbst.
Kann man das Erkenntniſsvermögen kritisiren, wenn man den Proceſs des Erkennens ganz und gar ver- kennt? wenn man nicht einmal nach diesem Processe fragt; wenn man unterläſst, die Nachforschung auf ihn zu richten?
„Was sind Raum und Zeit?“ So stellt Kant die Frage seiner transscendentalen Aesthetik. Er macht also
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Kant begann ein preiswürdiges Unternehmen, indem
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niſsvermögens, — das heiſst: durch die Frage nach der
Möglichkeit des Erkennens, — erschütterte, und neue
Anstrengungen des Denkens hervorrief. Aber in so fern
er damit ein neues System begründen wollte, fehlte es
ihm selbst am Grunde und Boden. Dem starken Geiste
fehlten die nothwendigen Hülfsmittel und Vorarbeiten.
Es liegt mir ob, im zweyten Theile dieses Werks
die Möglichkeit des Erkennens aus psychologischen Prin-
cipien zu erklären und zu begränzen. Dort aber wird
sich diese Absicht meiner Bemühungen vielleicht zu sehr
unter den übrigen verlieren; daher, und um einigen Le-
sern mehr Anknüpfungspuncte darzubieten, will ich hier
noch anhangsweise einige Bemerkungen über die Kant-
sche Lehre, sofern sie Kritik seyn soll, hinzufügen. Da-
bey könnte ich mich auf den Erfolg berufen, und diesen
gegen Kant gelten machen. Die Sätze, daſs Räumliches
und Zeitliches bloſse Erscheinung, Substanzen und Ursa-
chen nur unsre Gedanken, Einheit und Regierung der
Welt nur Ideen der Vernunft seyen, haben bekanntlich
die Nachfolger verleitet, sich die Welt a priori zu con-
struiren; und sich in sich selbst zu versenken, um die
Dinge wie sie sind, aus der Idee hervorgehen zu lassen.
Diese ganz unkritische Art zu philosophiren setze ich fürs
erste bey Seite, denn sie war nicht Kants Absicht, der
vielmehr das Wissen vom Glauben trennen, und es auf
Erfahrung beschränken wollte. Was aber mich eigent-
lich beschäfftigt, das ist das Unkritische der Kantschen
Kritik selbst.
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man den Proceſs des Erkennens ganz und gar ver-
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/398>, abgerufen am 25.11.2024.
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