beurtheilen. Die Aufforderung, Untersuchungen dieser Art anzustellen, ist von der dringendsten Art; denn es kommt darauf an, die Bedingungen der Selbstbeherr- schung zu finden, von welcher offenbar die Appercep- tion des eignen Inneren die erste Voraussetzung ist. Es kommt darauf an, die praktische Vernunft zu er- gründen, welche man durch die praktische Philosophie allein noch nicht hinreichend kennen lernt. Denn die Vernunft ist kein blosses Sollen, sie ist auch ein wirk- liches Handeln; sie vollzieht allemal in einigem Grade das, was sie gebietet; es bewegt sich allemal durch sie der innere Mensch, wenn er auch nur erschüttert, und nicht von der Stelle gerückt wird.
Sollen aber die synthetischen Untersuchungen so weit fortgeführt werden: so müssen die Elemente, welche ich hier vortrug, erst geprüft, dann vollständiger ausgear- beitet werden. Diese Mühe, wer wird sie übernehmen? Ohne Zweifel der Erste, dem dies Buch begegnet, wenn er so viel Mathematik versteht, als nöthig ist, und wenn er sich in das Ganze meiner Lehre zu finden weiss. Al- lein damit pflegt es nach meinen Erfahrungen etwas lange zu dauern. Manchmal habe ich bemerkt, dass Zuhörer, die ungefähr auf dem Puncte standen, wohin ich den Leser jetzt geführt habe, nun erst irre wurden an dem Ich; nun erst bemerkten, mit welchem schwierigen Pro- bleme sie von Anfang an beschäfftigt gewesen waren; nun erst in die Stimmung des Nachdenkens geriethen, worin sie vom ersten Anfang an hätten seyn sollen. Wohl denen, die, wenn auch spät, doch wenigstens ir- gend einmal dazu gelangen, sich zum ernstlichen For- schen aufgeregt zu fühlen!
Nun erst werden auch diejenigen Untersuchungen gelingen können, mit welchen sich das philosophische Publicum in den letzten Zeiten vergebens beschäff- tigt hat.
beurtheilen. Die Aufforderung, Untersuchungen dieser Art anzustellen, ist von der dringendsten Art; denn es kommt darauf an, die Bedingungen der Selbstbeherr- schung zu finden, von welcher offenbar die Appercep- tion des eignen Inneren die erste Voraussetzung ist. Es kommt darauf an, die praktische Vernunft zu er- gründen, welche man durch die praktische Philosophie allein noch nicht hinreichend kennen lernt. Denn die Vernunft ist kein bloſses Sollen, sie ist auch ein wirk- liches Handeln; sie vollzieht allemal in einigem Grade das, was sie gebietet; es bewegt sich allemal durch sie der innere Mensch, wenn er auch nur erschüttert, und nicht von der Stelle gerückt wird.
Sollen aber die synthetischen Untersuchungen so weit fortgeführt werden: so müssen die Elemente, welche ich hier vortrug, erst geprüft, dann vollständiger ausgear- beitet werden. Diese Mühe, wer wird sie übernehmen? Ohne Zweifel der Erste, dem dies Buch begegnet, wenn er so viel Mathematik versteht, als nöthig ist, und wenn er sich in das Ganze meiner Lehre zu finden weiſs. Al- lein damit pflegt es nach meinen Erfahrungen etwas lange zu dauern. Manchmal habe ich bemerkt, daſs Zuhörer, die ungefähr auf dem Puncte standen, wohin ich den Leser jetzt geführt habe, nun erst irre wurden an dem Ich; nun erst bemerkten, mit welchem schwierigen Pro- bleme sie von Anfang an beschäfftigt gewesen waren; nun erst in die Stimmung des Nachdenkens geriethen, worin sie vom ersten Anfang an hätten seyn sollen. Wohl denen, die, wenn auch spät, doch wenigstens ir- gend einmal dazu gelangen, sich zum ernstlichen For- schen aufgeregt zu fühlen!
Nun erst werden auch diejenigen Untersuchungen gelingen können, mit welchen sich das philosophische Publicum in den letzten Zeiten vergebens beschäff- tigt hat.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0397"n="377"/>
beurtheilen. Die Aufforderung, Untersuchungen dieser<lb/>
Art anzustellen, ist von der dringendsten Art; denn es<lb/>
kommt darauf an, die Bedingungen der <hirendition="#g">Selbstbeherr-<lb/>
schung</hi> zu finden, von welcher offenbar die Appercep-<lb/>
tion des eignen Inneren die erste Voraussetzung ist. Es<lb/>
kommt darauf an, die <hirendition="#g">praktische Vernunft</hi> zu er-<lb/>
gründen, welche man durch die praktische Philosophie<lb/><hirendition="#g">allein</hi> noch nicht hinreichend kennen lernt. Denn die<lb/>
Vernunft ist kein bloſses <hirendition="#g">Sollen</hi>, sie ist auch ein wirk-<lb/>
liches <hirendition="#g">Handeln</hi>; sie vollzieht allemal in einigem Grade<lb/>
das, was sie gebietet; es bewegt sich allemal durch sie<lb/>
der innere Mensch, wenn er auch nur erschüttert, und<lb/>
nicht von der Stelle gerückt wird.</p><lb/><p>Sollen aber die <hirendition="#g">synthetischen</hi> Untersuchungen so<lb/>
weit fortgeführt werden: so müssen die Elemente, welche<lb/>
ich hier vortrug, erst geprüft, dann vollständiger ausgear-<lb/>
beitet werden. Diese Mühe, wer wird sie übernehmen?<lb/>
Ohne Zweifel der Erste, dem dies Buch begegnet, wenn<lb/>
er so viel Mathematik versteht, als nöthig ist, und wenn<lb/>
er sich in das Ganze meiner Lehre zu finden weiſs. Al-<lb/>
lein damit pflegt es nach meinen Erfahrungen etwas lange<lb/>
zu dauern. Manchmal habe ich bemerkt, daſs Zuhörer,<lb/>
die ungefähr auf dem Puncte standen, wohin ich den<lb/>
Leser jetzt geführt habe, nun erst irre wurden an dem<lb/>
Ich; nun erst bemerkten, mit welchem schwierigen Pro-<lb/>
bleme sie von Anfang an beschäfftigt gewesen waren;<lb/>
nun erst in die Stimmung des Nachdenkens geriethen,<lb/>
worin sie vom ersten Anfang an hätten seyn sollen.<lb/>
Wohl denen, die, wenn auch spät, doch wenigstens ir-<lb/>
gend einmal dazu gelangen, sich zum ernstlichen For-<lb/>
schen aufgeregt zu fühlen!</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Nun erst werden auch diejenigen Untersuchungen<lb/>
gelingen können, mit welchen sich das philosophische<lb/>
Publicum in den letzten Zeiten vergebens beschäff-<lb/>
tigt hat.</p><lb/></div></div></div></div></body></text></TEI>
[377/0397]
beurtheilen. Die Aufforderung, Untersuchungen dieser
Art anzustellen, ist von der dringendsten Art; denn es
kommt darauf an, die Bedingungen der Selbstbeherr-
schung zu finden, von welcher offenbar die Appercep-
tion des eignen Inneren die erste Voraussetzung ist. Es
kommt darauf an, die praktische Vernunft zu er-
gründen, welche man durch die praktische Philosophie
allein noch nicht hinreichend kennen lernt. Denn die
Vernunft ist kein bloſses Sollen, sie ist auch ein wirk-
liches Handeln; sie vollzieht allemal in einigem Grade
das, was sie gebietet; es bewegt sich allemal durch sie
der innere Mensch, wenn er auch nur erschüttert, und
nicht von der Stelle gerückt wird.
Sollen aber die synthetischen Untersuchungen so
weit fortgeführt werden: so müssen die Elemente, welche
ich hier vortrug, erst geprüft, dann vollständiger ausgear-
beitet werden. Diese Mühe, wer wird sie übernehmen?
Ohne Zweifel der Erste, dem dies Buch begegnet, wenn
er so viel Mathematik versteht, als nöthig ist, und wenn
er sich in das Ganze meiner Lehre zu finden weiſs. Al-
lein damit pflegt es nach meinen Erfahrungen etwas lange
zu dauern. Manchmal habe ich bemerkt, daſs Zuhörer,
die ungefähr auf dem Puncte standen, wohin ich den
Leser jetzt geführt habe, nun erst irre wurden an dem
Ich; nun erst bemerkten, mit welchem schwierigen Pro-
bleme sie von Anfang an beschäfftigt gewesen waren;
nun erst in die Stimmung des Nachdenkens geriethen,
worin sie vom ersten Anfang an hätten seyn sollen.
Wohl denen, die, wenn auch spät, doch wenigstens ir-
gend einmal dazu gelangen, sich zum ernstlichen For-
schen aufgeregt zu fühlen!
Nun erst werden auch diejenigen Untersuchungen
gelingen können, mit welchen sich das philosophische
Publicum in den letzten Zeiten vergebens beschäff-
tigt hat.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 377. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/397>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.