Zweytens: Gerade das Schwanken und Fliessen der psychologischen Thatsachen, welches eine mathematische Regelmässigkeit derselben im Allgemeinen vermuthen lässt, erschwert gar sehr den Anfang der Untersuchung. Denn hiezu sind veste, genau bestimmte und begränzte Prin- cipien die erste Bedingung; was aber soll man aus jener allgemeinen Schwankung dergestalt herausheben, dass man es mit Sicherheit gesondert betrachten könne? Muss man nicht fürchten, Zusammengehöriges auseinander zu rei- ssen, und Bruchstücke eines untheilbaren Ganzen als selbstständig zu behandeln? -- Man sagt z. B. vom Men- schen: er habe Verstand und Willen; man handelt in den Psychologien zuerst vom Erkenntnissvermögen, dann vom Begehrungsvermögen. Wie wenn man von einem Dreyecke sagte: es habe Seiten und Win- kel? und wenn man dem gemäss die Trigonometrie in zwey Abschnitte zerlegen wollte, deren einer von den Sei- ten, der andere von den Winkeln handele? Wer bürgt uns dafür, dass unsre Psychologien weniger ungereimt seyen, als eine solche Trigonometrie seyn würde? Ste- hen nicht vielleicht diejenigen Thatsachen des Bewusst- seyns, die wir zu trennen pflegen, durch gewisse unbe- merkte Mittelglieder in eben so genauer Beziehung, als Seiten und Winkel im Dreyecke?
Diese Betrachtung müssen wir erst weiter führen, ehe von Principien der Psychologie, und von deren wis- senschaftlicher Behandlung die Rede seyn kann.
III. Weshalb sind wir so geneigt, uns in der Psy- chologie mit Abstractionen zu behelfen?
§. 10.
In andern Wissenschaften ist die Abstraction ein absichtliches Verfahren; wobey man weiss, was man zu-
B 2
§. 9.
Zweytens: Gerade das Schwanken und Flieſsen der psychologischen Thatsachen, welches eine mathematische Regelmäſsigkeit derselben im Allgemeinen vermuthen läſst, erschwert gar sehr den Anfang der Untersuchung. Denn hiezu sind veste, genau bestimmte und begränzte Prin- cipien die erste Bedingung; was aber soll man aus jener allgemeinen Schwankung dergestalt herausheben, daſs man es mit Sicherheit gesondert betrachten könne? Muſs man nicht fürchten, Zusammengehöriges auseinander zu rei- ſsen, und Bruchstücke eines untheilbaren Ganzen als selbstständig zu behandeln? — Man sagt z. B. vom Men- schen: er habe Verstand und Willen; man handelt in den Psychologien zuerst vom Erkenntniſsvermögen, dann vom Begehrungsvermögen. Wie wenn man von einem Dreyecke sagte: es habe Seiten und Win- kel? und wenn man dem gemäſs die Trigonometrie in zwey Abschnitte zerlegen wollte, deren einer von den Sei- ten, der andere von den Winkeln handele? Wer bürgt uns dafür, daſs unsre Psychologien weniger ungereimt seyen, als eine solche Trigonometrie seyn würde? Ste- hen nicht vielleicht diejenigen Thatsachen des Bewuſst- seyns, die wir zu trennen pflegen, durch gewisse unbe- merkte Mittelglieder in eben so genauer Beziehung, als Seiten und Winkel im Dreyecke?
Diese Betrachtung müssen wir erst weiter führen, ehe von Principien der Psychologie, und von deren wis- senschaftlicher Behandlung die Rede seyn kann.
III. Weshalb sind wir so geneigt, uns in der Psy- chologie mit Abstractionen zu behelfen?
§. 10.
In andern Wissenschaften ist die Abstraction ein absichtliches Verfahren; wobey man weiſs, was man zu-
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§. 9.
Zweytens: Gerade das Schwanken und Flieſsen der
psychologischen Thatsachen, welches eine mathematische
Regelmäſsigkeit derselben im Allgemeinen vermuthen läſst,
erschwert gar sehr den Anfang der Untersuchung. Denn
hiezu sind veste, genau bestimmte und begränzte Prin-
cipien die erste Bedingung; was aber soll man aus jener
allgemeinen Schwankung dergestalt herausheben, daſs man
es mit Sicherheit gesondert betrachten könne? Muſs man
nicht fürchten, Zusammengehöriges auseinander zu rei-
ſsen, und Bruchstücke eines untheilbaren Ganzen als
selbstständig zu behandeln? — Man sagt z. B. vom Men-
schen: er habe Verstand und Willen; man handelt
in den Psychologien zuerst vom Erkenntniſsvermögen,
dann vom Begehrungsvermögen. Wie wenn man von
einem Dreyecke sagte: es habe Seiten und Win-
kel? und wenn man dem gemäſs die Trigonometrie in
zwey Abschnitte zerlegen wollte, deren einer von den Sei-
ten, der andere von den Winkeln handele? Wer bürgt
uns dafür, daſs unsre Psychologien weniger ungereimt
seyen, als eine solche Trigonometrie seyn würde? Ste-
hen nicht vielleicht diejenigen Thatsachen des Bewuſst-
seyns, die wir zu trennen pflegen, durch gewisse unbe-
merkte Mittelglieder in eben so genauer Beziehung, als
Seiten und Winkel im Dreyecke?
Diese Betrachtung müssen wir erst weiter führen,
ehe von Principien der Psychologie, und von deren wis-
senschaftlicher Behandlung die Rede seyn kann.
III.
Weshalb sind wir so geneigt, uns in der Psy-
chologie mit Abstractionen zu behelfen?
§. 10.
In andern Wissenschaften ist die Abstraction ein
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/39>, abgerufen am 24.11.2024.
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