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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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bliebene Zeit-Einheit gar nicht für besonders gross nach
unserem Zeitmaasse halten; und daraus entsteht denn die
wichtige Frage, ob die einmal erschöpfte Empfänglichkeit
immer so schwach bleibe, oder ob es für sie eine Er-
neuerung gebe? Und wie eine solche sich denken lasse?

Dass die Empfänglichkeit sich erneuere, muss man
schon der Erfahrung gemäss höchst wahrscheinlich finden.
Wenige Stunden, vollends Tage, müssen nach den bis-
herigen Betrachtungen, die ursprüngliche Empfänglichkeit
zwar nicht im strengsten Sinne ganz erschöpfen (hievon
lehren die Formeln das Gegentheil), aber doch sie auf
einen äusserst kleinen, mit ihrer ursprünglichen Stärke
kaum vergleichbaren, Bruch herabbringen, der selbst noch
immer abnimmt, und bald wiederum mit seiner eignen
früheren Grösse fast nicht zu vergleichen ist. Dies auf
die menschliche Lebensdauer angewendet, so müsste die
erste kindliche Empfänglichkeit schnell verschwinden, bis
auf beynahe Nichts, der Empfänglichkeit reifer Jahre aber
müsste man eine undenkbare Kleinheit beylegen, -- wenn
sie ein für allemal verbraucht wäre.

Allein auch wie die Empfänglichkeit sich erneuere,
lässt sich begreifen und näher bestimmen, sobald man
sich nur hütet, die metaphysischen Gründe ihrer Abnahme
nicht über die gehörigen Schranken auszudehnen. Jede
Selbsterhaltung der Seele, also jede Vorstellung, hat ein
Aeusserstes, bey welchem sie vollbracht seyn würde wenn
sie es erreichte. Sie kann nur wachsen, wiefern sie zu
diesem Aeussersten noch nicht gelangt ist. Die Em-
pfänglichkeit nimmt ab, in wiefern das, was durch die
Wahrnehmung in der Seele geschehen soll, schon ge-
schehen ist. -- Rückwärts also, die Empfänglichkeit
nimmt nicht ab, in wiefern das, was geschehen
soll, eben jetzt noch nicht geschieht
.

Hieraus könnte man schliessen, die Empfänglichkeit
erneuere sich schon dadurch, dass die in früherer Wahr-
nehmung gebildeten Vorstellungen gehemmt werden;
welches doch, ohne nähere Bestimmung ausgesprochen,

bliebene Zeit-Einheit gar nicht für besonders groſs nach
unserem Zeitmaaſse halten; und daraus entsteht denn die
wichtige Frage, ob die einmal erschöpfte Empfänglichkeit
immer so schwach bleibe, oder ob es für sie eine Er-
neuerung gebe? Und wie eine solche sich denken lasse?

Daſs die Empfänglichkeit sich erneuere, muſs man
schon der Erfahrung gemäſs höchst wahrscheinlich finden.
Wenige Stunden, vollends Tage, müssen nach den bis-
herigen Betrachtungen, die ursprüngliche Empfänglichkeit
zwar nicht im strengsten Sinne ganz erschöpfen (hievon
lehren die Formeln das Gegentheil), aber doch sie auf
einen äuſserst kleinen, mit ihrer ursprünglichen Stärke
kaum vergleichbaren, Bruch herabbringen, der selbst noch
immer abnimmt, und bald wiederum mit seiner eignen
früheren Gröſse fast nicht zu vergleichen ist. Dies auf
die menschliche Lebensdauer angewendet, so müſste die
erste kindliche Empfänglichkeit schnell verschwinden, bis
auf beynahe Nichts, der Empfänglichkeit reifer Jahre aber
müſste man eine undenkbare Kleinheit beylegen, — wenn
sie ein für allemal verbraucht wäre.

Allein auch wie die Empfänglichkeit sich erneuere,
läſst sich begreifen und näher bestimmen, sobald man
sich nur hütet, die metaphysischen Gründe ihrer Abnahme
nicht über die gehörigen Schranken auszudehnen. Jede
Selbsterhaltung der Seele, also jede Vorstellung, hat ein
Aeuſserstes, bey welchem sie vollbracht seyn würde wenn
sie es erreichte. Sie kann nur wachsen, wiefern sie zu
diesem Aeuſsersten noch nicht gelangt ist. Die Em-
pfänglichkeit nimmt ab, in wiefern das, was durch die
Wahrnehmung in der Seele geschehen soll, schon ge-
schehen ist. — Rückwärts also, die Empfänglichkeit
nimmt nicht ab, in wiefern das, was geschehen
soll, eben jetzt noch nicht geschieht
.

Hieraus könnte man schlieſsen, die Empfänglichkeit
erneuere sich schon dadurch, daſs die in früherer Wahr-
nehmung gebildeten Vorstellungen gehemmt werden;
welches doch, ohne nähere Bestimmung ausgesprochen,

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[345/0365] bliebene Zeit-Einheit gar nicht für besonders groſs nach unserem Zeitmaaſse halten; und daraus entsteht denn die wichtige Frage, ob die einmal erschöpfte Empfänglichkeit immer so schwach bleibe, oder ob es für sie eine Er- neuerung gebe? Und wie eine solche sich denken lasse? Daſs die Empfänglichkeit sich erneuere, muſs man schon der Erfahrung gemäſs höchst wahrscheinlich finden. Wenige Stunden, vollends Tage, müssen nach den bis- herigen Betrachtungen, die ursprüngliche Empfänglichkeit zwar nicht im strengsten Sinne ganz erschöpfen (hievon lehren die Formeln das Gegentheil), aber doch sie auf einen äuſserst kleinen, mit ihrer ursprünglichen Stärke kaum vergleichbaren, Bruch herabbringen, der selbst noch immer abnimmt, und bald wiederum mit seiner eignen früheren Gröſse fast nicht zu vergleichen ist. Dies auf die menschliche Lebensdauer angewendet, so müſste die erste kindliche Empfänglichkeit schnell verschwinden, bis auf beynahe Nichts, der Empfänglichkeit reifer Jahre aber müſste man eine undenkbare Kleinheit beylegen, — wenn sie ein für allemal verbraucht wäre. Allein auch wie die Empfänglichkeit sich erneuere, läſst sich begreifen und näher bestimmen, sobald man sich nur hütet, die metaphysischen Gründe ihrer Abnahme nicht über die gehörigen Schranken auszudehnen. Jede Selbsterhaltung der Seele, also jede Vorstellung, hat ein Aeuſserstes, bey welchem sie vollbracht seyn würde wenn sie es erreichte. Sie kann nur wachsen, wiefern sie zu diesem Aeuſsersten noch nicht gelangt ist. Die Em- pfänglichkeit nimmt ab, in wiefern das, was durch die Wahrnehmung in der Seele geschehen soll, schon ge- schehen ist. — Rückwärts also, die Empfänglichkeit nimmt nicht ab, in wiefern das, was geschehen soll, eben jetzt noch nicht geschieht. Hieraus könnte man schlieſsen, die Empfänglichkeit erneuere sich schon dadurch, daſs die in früherer Wahr- nehmung gebildeten Vorstellungen gehemmt werden; welches doch, ohne nähere Bestimmung ausgesprochen,

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/365>, abgerufen am 22.11.2024.